Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Bläss in Stall und Haus

Tierarzt und Gemeindepräsident Niklaus Sturzzenegger hat so manchen Bläss erlebt. Eine Gesprächnotiz für Obacht Kultur.

Die einen heissen Bijou vom Buchenstock, Amadeus von Appenzell oder Gletscher von Bärgfrüehlig, die anderen Blässli, Bläss oder Frisch. Die einen sind reinrassig mit Stammbaum, die anderen sind reinrassig oder vielleicht auch nicht, jedenfalls sind sie ohne Stammbaum auf der Welt. Appenzeller Bläss sind sie trotzdem und werden sogar so gerufen, kurz und knapp und unverkennbar.

Niklaus Sturzenegger, früher Tierarzt in Trogen, seit 7 Jahren daselbst Gemeindepräsident, hat viele Hofhundnamen gehört und ist vielen Bläss begegnet. Unterschiede zwischen reinrassigen und nichtreinrassigen Hunden hat er nicht erlebt. Sicher ist, wenn einer wie ein Appenzeller Bläss aussieht und auf einem Appenzeller Hof arbeitet, dann ist er auch hier entstanden. Und der Wert eines Appenzeller Bläss liegt für die Bauern ohnehin nicht in einem Stammbaum oder in der früher oft für den Hund bezahlten Zwanzigernote, sondern in den besonderen Fähigkeiten der Bläss, ihrem Trieb zum Treiben oder Hüten einer Herde. Dazu gehört auch das „Stechen“, das blitzschnelle Kneifen ins Fesselgelenk des Viehs.

Sind sie also doch Wadenzwicker oder ist das nur ein Vorurteil? Hinterhältig sind Bläss laut Sturzenegger jedenfalls nicht. Dass sie sich von hinten nähern, hat einfach mit ihrer Aufgabe zu tun, Druck zu machen, vorwärts zu treiben. Kein Wunder, sind Bläss bei Kühen nicht beliebt. Sturzenegger hat selbst miterlebt, wie Kühe einem Bläss auch Kontra gegeben haben. So hält sich denn auch ein Bläss nie zwischen den Kühen auf. Ausserdem gehört er nicht in den Stall. Sein Ort ist die Tenne oder Vorbrugg. Freilich schlich sich manchmal ein Bläss in den Stall, frass die Saukost mit oder die Nachgeburt der Kühe und Sauen. Bei der heutigen Laufstallhaltung geht das nicht mehr, hier würden die Kühe dem Bläss schnell gefährlich werden.

Inzwischen wohnen Bläss ohnehin öfter in Hundehütten und werden auch als Familienhunde gehalten, das heisst, sie dürfen ins Haus. Die Einstellung gegenüber den Bläss hat sich geändert, oder vielmehr, es existiert eine neue neben der bisherigen. Nik Sturzenegger kennt beide Seiten: jene Menschen, die als Nutztierhalter entscheiden, und jene, denen die Tiere mehr als nur nützliche Helfer sind. So oder so: Die meisten Bauern haben eine gute Beziehung zum Tier, aber sie hat Grenzen. In der Nutztierhaltung muss die Wirtschaftlichkeit gewährleistet bleiben, das gilt auch für Frakturbehandlungen oder andere Therapien, für grosse und für kleine Tiere. Allerdings waren Bläss so oder so selten Sturzeneggers Patienten. Er war auf die grossen Tiere spezialisiert, doch wenn er jene in den Ställen aufsuchte, kam er stets auch an den Bläss vorbei: „Als Tierarzt hatte ich immer auch mit den Hofhunden Kontakt und wurde regelmässig von den gleichen angebellt oder sogar verbellt.“ Aber so schnell vertreibt ein Bläss keinen wie Sturzenegger. Bald einmal kannte der Tierarzt die Hunde und bei jedem einzelnen wusste er, wie jener am besten angesprochen wurde, denn „ein guter Bläss hört zu“. So funktioniert beim Bläss auch die Weitergabe seiner Fertigkeiten, denn die Grundanlage ist das eine und die Erziehung das andere: „Entscheidend ist, wie ein Hund erzogen wird, was er gewohnt ist, wer seine Gspänli sind.“ Dazu gehört auch der ältere Hund, der dem jüngeren vieles beibringt. Oft hielten und halten sich die Bauern zwei Hunde. Wobei sich auch hier einiges geändert hat, denn „Bauernhunde jüngeln zweimal im Jahr.“ Nicht alle der jungen Hunde überleben die ersten drei Monate. Inzwischen hat sich aber die Praxis des Kastrierens weiter verbreitet. Das hat einerseits den Vorteil, dass keine überzähligen Hunde auf die Seite gebracht werden müssen, denn das tut kein Bauer gern, andererseits bleiben die Hunde, statt auf Partnersuche wochenlang abwesend zu sein auf dem Hof – dort, wo sie gebraucht werden, dort, wo sie auch ihr Gnadenbrot erhalten, weil die Bläss eben einfach dazugehören.

Obacht Kultur No. 18, 2014/1

Tanz von Bohl bis Lok

Am vergangenen Wochenende wurde schweizweit getanzt. In St.Gallen wurde an vielen Stationen mitgetanzt, nachgetanzt und zugeschaut.

Ein paar der türkisfarbenen Tanzfestballons hatten sich losgerissen und stiegen hoch in den Himmel auf. Während ihnen einige Blicke folgten, hatte die fünfte Ausgabe Tanzfest schon begonnen – unbemerkt, still und ebenfalls in Türkis. Die Stiftung Freizeit und Kilian Haselbeck hatten sich ins Innenstadtleben gemischt, genauer unter die Wartenden am Bohl. Zu dritt nahmen sie Bewegungen auf, variierten sie und gestalteten daraus spontane Tanzsequenzen in raschem Wechsel. Ebenso plötzlich wie sie erschienen waren, verschwanden sie in einem Postauto – viel zu schnell. Aber schon eine dreiviertel Stunde später war ein sogenannter Flashmob der Schweizerischen Trachtenvereinigung am Bohl angekündigt. Also wurde intensiv nach Trachten Ausschau gehalten. Als jedoch die Akkordeonmusik einsetzte, lösten sich immer mehr Paare aus der Menge und tanzen ganz ohne traditionelle Kleidung. Eine gute Idee, denn so zeigte sich, dass Volkstanz nicht davon lebt, touristisch vorgeführt zu werden, sondern aus sich heraus Spass macht. Das war den Tanzenden deutlich anzusehen und übertrug sich auch aufs Publikum.

In zahlreichen Workshops und Kursen konnten sich Tanzbegeisterte dann am Freitag, Samstag und Sonntag selbst noch weiterbilden. Aber auch für jene, die einfach nur gern zuschauen, gab es dazu viele gute Gelegenheiten. Zum Beispiel am Freitagabend in der Grabenhalle. Dort zeigte die Rotes Velo Tanzkompanie ihr Stück «Uppercut» (siehe Besprechung vom 6. März 2014) in einer radikalisierten Version. Anschliessend traten Meret Schlegel und Kilian Haselbeck mit «orthopädie or to be» auf. Im Duett zweier Individuen wurde das Prinzip von Actio und Reactio reflektiert. Mit nur zwei Dutzend Wäscheklammern und zwei überzeugenden Tanzprofis – so einfach, so gut. Auch der zufällig hereintaumelnde Nachtfalter passte in die Choreographie spielerischer und experimenteller Bewegungen.

Beim Tanzrundgang am Samstag zeigte sich dann erneut, dass guter Tanz Gegebenheiten aufnimmt und kreativ weiterentwickelt. Der erste Tanzrundgang fand am Nachmittag während des grössten Einkaufsrummels statt, der zweite dann am Abend in der beinahe leergefegten Fussgängerzone. Es wurde ein Start mit Hindernissen, denn der Aepliplatz ist so neu, dass er auf manchem Stadtplan noch nicht verzeichnet ist. Schliesslich hatten sich aber 70 Unverdrossene bei Regen und Kälte eingefunden, um Exequiel Barreras und Tobias Spori von der Tanzkompanie des Theaters St.Gallen im eigens eingerichteten Freiluftbüro zuzuschauen. Die Atemwölkchen dampften und Monotonie am Arbeitsplatz schlug um in dynamischen Übermut – wenn dies ansteckend ist, könnte das die eine oder andere Büropflanze am Montagmorgen zu spüren bekommen.

Auch Silvia Salzmann und Leonie Humitsch begegneten sich an einem Tisch. Die beiden österreichischen Tänzerinnen inszenierten ein Mit- und Gegeneinander am Multertor. Von dort ging es weiter an den Bahnhofsplatz, wo sich Kjersti Sandstø und Konrad Stefanski auf die Spur des heutigen Körperbewusstseins begaben: Was dem einen Yoga und Vergeistigung ist der anderen Botox und Stiletto. Dabei wurde der Lämmlerbrunnen kreativ miteinbezogen. Da er aber zugleich mit dem Regen um die Wette plätscherte, waren alle froh, dass die letzte Station die westliche Bahnhofsunterführung war. Claudia Roemmel und TIP Freiburg tanzten hier eine «Instant-Composition». Dreissig Tanzschaffende aus dem In- und Ausland fügten sich zu kraftvollen Bewegungsflüssen, hielten Gegenströme aus bis alle Elemente erfasst waren. Wer hätte gedacht, dass die Tiefgarage so einen ausgezeichneten Resonanzraum abgibt und sich der Durchgangsort zum Innehalten eignet. Da er aber trotzdem kalt und zugig blieb, war die anschliessende Choréoké-Nacht in der Lokremise ideal, um sich warm zu tanzen.

(Lange Version. Kurzversion hier)

Jeanne Devos und Karin Enzler

Ein Kunstbeitrag zu “Mitten am Rand” – Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund

Schauspielerinnen und Schauspieler sind präsent auf der Bühne, im Film oder im öffentlichen Raum. Sie stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit und sind doch immer Teil eines grösseren Ganzen. Denn der Schauspielberuf braucht Publikum, er braucht Regisseurinnen, Dramaturgen, Theaterautorinnen oder Souffleure.

Das Publikum ist da an der Kulturlandsgemeinde in Schönengrund. Aber ansonsten sind Jeanne Devos und Karin Enzler auf sich gestellt. Wie also sollten sie die Samstagsplattformen mitgestalten? Sollten sie schlicht hinweisen? Etwas erklären, pädagogisch wertvoll? Aus vorhandenen Texten vorlesen oder pantomimisch agieren? Komisch sein? Die beiden Schauspielerinnen haben sich entschieden, nicht zu belehren, nicht zu deuten, nicht auf Klamauk zu setzen, sondern ganz ihrer Spiellust zu vertrauen. Sie treten auf als Vertreterinnen der Schauspielgilde und thematisieren, was sie persönlich interessiert. Sie reflektieren als Künstlerinnen einer ganz besonderen Sparte, einer, die Figuren heraufbeschwören und sie wieder gehen lassen kann, die temporär stattfindet, aber nichtsdestoweniger bleibende Eindrücke hinterlässt, einer Kunst, deren Protagonisten unterwegs sind, im Leben und mit jedem Stück.

1. Plattform „Zentrum und Peripherie“

Schauspielerinnen sind mobil – auch Jeanne Devos und Karin Enzler. Sie reisen in ihren Stücken und ebenso in ihrer Biografie. Sie müssen sich wandeln können mit jedem Theaterengagement, sogar mit jedem Stück. Die Frage nach dem Mittelpunkt, dem Woher und Wohin ist also viel mehr als nur eine des Ortswechsels.

2. Plattform „Einschluss und Ausgrenzung“

Der Schauspielberuf kann nicht allein stattfinden, er steht und fällt mit der Erwartung des anderen und mit den Rahmenbedingungen. Wie sehr dürfen Schauspielende mit ihrer Rolle verschmelzen? Wie wollen sie wahrgenommen werden? Wollen sie geliebt werden? Fragen nach Identität und Konkurrenz sind Alltag in der Schauspielkunst.

3. Plattform „Biografien und Brüche“

Schauspielerinnen können alles sein. Aber der Beruf hat Schattenseiten. Sie auf sich zu nehmen und zu versuchen, damit umzugehen, ist eine individuelle Entscheidung, aber die Herausforderungen mindert dies nicht.

Jeanne Devos und Karin Enzler präsentieren nicht einfach ein leicht zu konsumierendes Unterhaltungsprogramm. Sondern sie reisen für dreimal zehn Minuten als Schauspielerinnen in ihrem Metier herum und bringen an die Kulturlandsgemeinde persönliche, sinnliche Erfahrungsberichte zu Rand und Mitte eines Berufes.

Am Sonntag wird Karin Enzler im Haus Appenzell in Zürich sein. Von dort aus ist sie mit Jeanne Devos in Schönengrund per Liveschaltung verbunden. Für einmal ist die Metropole am Rand und Schönengrund als Kulturlandsgemeindeort das Zentrum. Die Musik spielt aber in Zürich: Karin Enzler wird, begleitet von Kontrabassist Patrick Kessler, aus dem aktuellen Repertoire der JacksonInsel singen.

Kulturlandsgemeindetext

Von Schönengrund zum Mittelpunkt der Erde – FMSW

Ein Kunstbeitrag zu “Mitten am Rand” – Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund

Die geografische Mitte der Schweiz liegt in der Gemeinde Sachseln – oder bei Thun. Je nachdem, welche Berechnungsmethode zur Ermittlung des Landesmittelpunktes angewandt wird. Eine der möglichen Methoden sucht beispielsweise den Schwerpunkt eines zweidimensionalen Landkarten-Modells. Ausbalancieren der zweidimentionalen Karte wäre das empirische Äquivalent dazu. In der Schweiz ist dieser Punkt auf der Älggi-Alp im südlichen Gebiet der Gemeinde Sachseln.  Ein zweiter Mittelpunkt der Schweiz liegt am weitesten von den Landesgrenzen entfernt: in Uetendorf bei Thun.

Die geografische Mitte ist ein Konstrukt. Genauso wie der geografische Nullpunkt der Welt: Rund 600 Kilometer südlich der Küste Ghanas kreuzt der Nullmeridian den Äquator. Bestimmt wurde er anlässlich der Internationalen Meridiankonferenz 1884. Seither liegt er in der Londoner Sternwarte Greenwich und fixiert das Gradnetz der Erde. Als gedachtes Koordinatensystem zur geografischen Ortsbestimmung ist es in Zeiten der weit verbreiteten GPS-Navigationsgeräte zum vielgenutzten Referenzsystem geworden. Aber kaum jemand aber interessiert sich für jenen Punkt auf Position N 0°00‘000‘‘‘ E 0°00‘000‘‘‘ respektive S 0°00‘000‘‘‘ W 0°00‘000‘‘‘ im Atlantischen Ozean – ausser das Künstlerkollektiv FallerMiethSüssiWeck.

Die vier haben immer wieder die eigene Position untersucht, sie waren mit GPS unterwegs, fuhren mit einem Schiff Figuren in die Ostsee und versenkten schliesslich im Rahmen einer eigens durchgeführten Expedition eine Edelstahlkugel im Golf von Guinea, als sichtbares, unsichtbares Zeichen am Nullpunkt der Welt. Aber könnte als solcher nicht auch der Erdmittelpunkt angesehen werden? Demnach läge Schönengrund nicht nur 844 Meter über dem Meer, sondern 6371,844 Kilometer entfernt vom Nullpunkt der Erde – ungefähr, denn die Erde gleicht eher einer Kartoffel als einem Ball. Deshalb sind auch dreidimensional gesehen mehrere theoretische Mittelpunkte vorhanden. Davon lassen sich FallerMiethSüssiWeck aber kaum beeindrucken, denn etwas berechnen ist das eine, aber selber forschen, selber graben, selber erfahren ist das andere.

Die vier Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weissensee haben die Schaufeln in die Hand genommen, um selbst den Erdmittelpunkt zu suchen. Dass Schönengrund dafür nicht die idealen Voraussetzungen bietet, ist ihnen bewusst. Schliesslich gibt es Orte auf der Welt, die geografisch gesehen bereits unter der Erdoberfläche liegen. Aber bei einem geplanten Bohrloch von über Sechstausend Kilometern kommt es auf 844 zusätzliche Meter mehr nicht an. Zumal der Schönengrunder Tiefbauer und Gemeinderat Hans Brunner und seine Kollegen Profi-Werkzeuge und Schalungsbretter zur Verfügung stellen. Hindernisse kommen jedoch von anderer Seite, oder wie Brunner es formuliert: «Schönengrund ist nur schön, wenn man nicht im Grund gräbt“. So machen Wassereinbrüche und Sandsteinbrocken die Grabungen nicht einfacher. Wer weiss, vielleicht kommen auch noch jene Riesenpilze dazwischen, die Jule Vernes Romanhelden auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde entdeckten? Aber die Vorstellung, dass Schönengrund den direkten Kontakt zur Mitte bekommt, spornt Lina Faller, Marcel Mieth, Thomas Stüssi und Susanne Weck an. Ausserdem zählt die Geste des Versuches. Dabei sind die vier in bester Gesellschaft. Geologen bohren immer wieder in die Erde. Am tiefsten reicht die Kola-Bohrung auf der gleichnamigen russischen Halbinsel. Mit einer Tiefe von 12.262 Metern ist sie seit 1979 die tiefste Bohrung der Welt. Höchste Zeit also für einen neuen Rekord.

Kulturlandsgemeindetext

Georg Gatsas, Signal The Future, 2008–2014

Ein Kunstbeitrag zu „Mitten am Rand“ – Kulturlandsgemeinde 2014 in Schönengrund

Mittendrin und doch für sich. Am Rand und doch mittendrin. Georg Gatsas porträtiert die Vertreter der Londoner Dubstep-Szene. Mal fotografiert er sie tanzend im Club, hebt sie mit dem Blitzlicht der analogen Kamera für einen Sekundenbruchteil heraus aus der tanzenden Menge, bannt ihre Bewegung in einem intensiven, flüchtigen Moment ihres Lebens. Oder Gatsas porträtiert sie in den Tanzpausen, im Club, auf der Strasse. Nüchtern und aufmerksam, aber stets auch aus der Sicht des Insiders.

Georg Gatsas bewegt sich seit langem in den Subkulturen der Grossstädte – mittendrin in den Randzonen, dort, wo sich Szenen treffen, sich in schnellem Wechsel auflösen und neu finden. Derzeit ist Georg Gatsas als zweiter Stipendiat des Ausserrhoder Artist-in-Residence-Programms unterwegs. Die Besonderheit des Ausserrhoder Förderprogrammes: Es gibt kein fixes Atelier an einem Ort im Ausland, vielmehr bewerben sich Kunstschaffende für einen von ihnen ausgewählten, für das jeweilige Projekt passenden Ort. Georg Gatsas hat für seinen Aufenthalt London gewählt. Hier will er seine 2008 begonnene Arbeit über die Dubstep-Szene abschliessen, um sie dann als Buch zu publizieren.

Dubstep ist eng verknüpft mit afrojamaikanischen Einwanderern Londons, der von ihnen mitgebrachten, von Bässen dominierten Musik, aus der Reggae, Dub, Garage und Two Step hervorgingen. Aktuell heissen die daraus entstanden Musikstile Grime, Dubstep und Funky und werden von jungen Produzentinnen und Produzenten stetig variiert, neu definiert und weiterentwickelt. Sie holen ihre Einflüsse von den Strassen britischer Grossstädte und verbreiten ihren Sound über Web-Blogs, spezialisierte Radiosender, Foren und Printmedien. Viele Stücke werden nie zum Verkauf angeboten. Nicht nur deshalb sind die Clubnächte gut besucht. Mit den Soundanlagen der Clubs erreichen auch Bässe unterhalb der menschlichen Hörgrenze die Tanzenden. Licht war dabei lange Zeit überflüssig: Das Publikum setzte sich auf einer stockdunklen Tanzfläche vor schwarz gestrichenen Wänden vollkommen dem Hörerlebnis aus – sehen und gesehen werden spielte keine Rolle. Es ging um Musik, Klang und Gemeinschaftsgefühl. Georg Gatsas fotografierte somit intime Momente. Inzwischen ist er aber auch zum Chronist von Veränderungen geworden, denn die Szene professionalisiert sich, vernetzt sich weltweit und in den Clubs bleibt das Licht an.

Gatsas zeigt nicht nur die Menschen, sondern unanhängig von ihnen die menschenleeren, nächtlichen Strassen Londons wie sie sich den Clubbesuchern darbieten – mitten in London, aber am Rande des tagsüber pulsierenden Alltags. Auch der Künstler selbst befindet sich im Spannungsfeld von Zentrum und Perpherie: Gatsas stammt ursprünglich aus Grabs im Rheintal und wuchs in Rorschach auf. Seit einigen Jahren lebt er in Waldstatt. Hier schätzt er, in Abgeschiedenheit konzentriert arbeiten zu können, und zugleich ausreichend Platz für die Archivierung seiner Fotosammlung zur Verfügung zu haben. Denn Gatsas fotografiert analog. Auch damit agiert Gatsas nicht im Zentrum, zumindest nicht dem der heutigen Fototechnik, aber die Fotokunst geht seit jeher eigene Wege und Georg Gatsas sowieso.

Kulturlandsgemeindetext

Der Untergrund in Schönengrund

Die Kulturlandsgemeinde 2014 ist auch ein Kunstort. Georg Gatsas, die beiden Schauspielerinnen Jeanne Devos und Karin Enzler und das Kunstkollektiv FMSW zeigen ihre Interpretationen des diesjährigen Mottos „Mitten am Rand“.

Künstlerinnen und Künstler zieht es oft in die Mitte. Aber auch das Leben ausserhalb der grossen Zentren kann anregend sein. Georg Gatsas kennt beides: Metropole und Peripherie. Seit einigen Jahren lebt er in Waldstatt, arbeitet hier abgeschieden und mit ausreichend Platz für sein Fotoarchiv. Zugleich zieht es ihn in die Grossstadt. Aktuell ist Gatsas als zweiter Stipendiat des Ausserrhoder Artist-in-Residence-Programms in London unterwegs. Hier will er seine 2008 begonnene Arbeit über die Dubstep-Szene abschliessen, um sie dann als Buch zu publizieren. Fotografien aus der Serie zeigt Gatsas jetzt an der Kulturlandsgemeinde in Schönengrund.

Der Künstler porträtiert die Vertreter dieser Londoner Musikszene. Oft fotografiert er sie im Club, hebt sie mit dem Kamerablitz für einen Sekundenbruchteil heraus aus der tanzenden Menge, bannt ihre Bewegung in einem intensiven, flüchtigen Moment ihres Lebens. Sie sind mittendrin und doch ganz für sich, das gilt zugleich für die ganze Szene. Und es gilt ebenso für die Schauspielkunst: Schauspielerinnen und Schauspieler sind präsent auf der Bühne, im Film oder im öffentlichen Raum. Sie stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit und sind doch immer Teil eines grösseren Ganzen. Denn der Schauspielberuf braucht Publikum, er braucht Regisseurinnen, Dramaturgen, Theaterautorinnen oder Souffleure.

Jeanne Devos und Karin Enzler reisen zum Auftakt einer jeden Kulturlandsgemeindeplattform in ihrem Metier herum. Die beiden Schauspielerinnen liefern persönliche, sinnliche Erfahrungsberichte zu Rand und Mitte eines Berufes. Schliesslich sind sie Künstlerinnen einer ganz besonderen Sparte: Sie können Figuren heraufbeschwören und sie wieder gehen lassen. Sie agieren mit jedem Stück temporär begrenzt und hinterlassen dennoch bleibende Eindrücke. Und sie sind unterwegs, im Leben und mit jedem Projekt. Die Frage nach dem Mittelpunkt, dem Woher und Wohin ist also viel mehr als nur eine des Ortswechsels. Aber selbst geografisch ist sie nicht einfach zu beantworten.

Das Künstlerkollektiv FMSW hat sich nichts weniger vorgenommen, als den Mittelpunkt der Erde zu finden, von Schönengrund aus. Dass dies nicht einfach wird, ist ihnen durchaus bewusst. Da wäre zum einen das Definitionsproblem, denn die Erde gleicht eher einer Kartoffel als einem Ball. Wo also ist die Mitte? Auf jeden Fall liegt sie in Schönengrund zusätzliche 844 Meter über dem Meer. Aber von solchen Details lassen sich Lina Faller, Marcel Mieth, Thomas Stüssi und Susanne Weck nicht einschüchtern. Die vier Absolventen der Kunsthochschule Berlin-Weissensee haben die Schaufeln in die Hand genommen und angefangen zu graben. Wie weit sie dabei kommen, ist zweitrangig, viel mehr zählt die Lust, es zu versuchen und sich dabei von Hindernissen nicht beeindrucken zu lassen. So machen Wassereinbrüche und Sandsteinbrocken die Grabungen nicht einfacher. Wer weiss, vielleicht kommen auch noch jene Riesenpilze dazwischen, die Jule Vernes Romanhelden auf ihrer Reise zum Mittelpunkt der Erde entdeckten?

Die Oberfläche und ihr Hintergrund

SURFACES – NEUE FOTOGRAFIE AUS DER SCHWEIZ, Fotomuseum Winterthur

Klick und dann? Die Digitalisierung hat nicht nur die Aufnahmetechnik verändert, sondern auch die Art und Weise, wie Fotografien aufbewahrt, gezeigt und angesehen werden. Schneller, mehr, besser? Die einfach zu realisierende Hochglanzästhetik steigert die Lust am unperfekten Bild, aber auch am vermeintlich authentischen. Doch stets schwingt das Wissen um die Manipulierbarkeit des Bildes mit. Künstlerinnen und Künstler gehen offensiv damit um. Collectif-Fact beispielsweise sezieren digitales Film- und Fotomaterial und blenden es wieder übereinander wie die Ebenen in einem Bildbearbeitungsprogramm. Versatzstücke einer Stadt und ihrer Menschen driften einzeln, als flächige Elemente durch den urbanen Raum, der freilich auch nur zweidimensional daherkommt. Alles löst sich auf. Ist alles nur noch Oberfläche? Zumindest ist das Interesse an ihr ein wesentliches Merkmal der aktuellen Fotografie – so die These der Ausstellung „Surfaces“ im Fotomuseum Winterthur. Der Begriff wird weit gefasst, so weit, dass er verschiedene Präsentationsformate einschliesst und in inhaltliche Fragen überleitet. Stefan Burgers Arbeit „1,5 Jahre Nadelfilz im Fotohof“ etwa zeigt einerseits eine formale Erweiterung des Fotografiebegriffs, führt zugleich auf die generellen Entstehungsbedingungen der Fotografie zurück und schlägt von dort den Bogen zum Umgang mit Idee und Werk. Andere Arbeiten verweigern sich dem musealen Anspruch auf eine endgültige Form wie „Prussian Summer“ von Cédric Eisenring und Thomas Julier. Es umfasst aktuell 97 ringgebundene Hefte, existierte aber auch als Bildreihe oder als Box mit Themenheften. Diese Varianz ist weniger ein Ausdruck von Beliebigkeit, als vielmehr die Suche nach der jeweils richtigen Form für die selbst entwickelte Enzyklopädie. Gleiches gilt für Jules Spinatschs „Competing Agendas“: Statt zum grossformatigen Wandbild zusammengesetzt zu werden, verbleiben 1440 Einzelbilder diesmal in einer hermetischen grauen Kartonbox. So entziehen sie sich der Sichtbarkeit und damit einer Grundannahme für ausgestellte Fotografie. In diesem Spiel mit den Möglichkeiten ist es nur konsequent, dass auch die Publikation zur Ausstellung Optionen bietet: Sie ist in mehreren Farbvarianten erhältlich. Dabei ist es für die reproduzierten Bilder nicht unerheblich, ob sie in schwarzweiss, im Vierfarbendruck, mit einer Sonderfarbe oder etwa auf gelbem Papier daherkommen, aktives Entscheiden und Nachdenken über den Charakter der Fotografie ist gefragt.

Experimente statt Objekte

Monika Sennhauser

NOWS

Städtische Ausstellung im Architekturforum Ostschweiz

Vernissage Do 8. Mai 2014, 18.30 Uhr

Monika Sennhauser beobachtet aufmerksam optische und astronomische Phänomene. Aus dem bewussten Sehen heraus entwickelt sie präzise Fragestellungen: Ist der Bogenverlauf der Sonnenbahn auf der anderen Seite der Erdhalbkugel ein anderer als hier oder genau gegengleich? Wie lässt sich die Erdbewegung um die Sonne bildlich fassen, im Gegensatz zur scheinbar zu beobachtenden Sonnenbewegung? Wie öffnet ein Spiegel den Raum, und wie beeinflusst er die Wahrnehmung eines Gegenstandes?

Sennhausers künstlerische Werke sind mehr Experiment als Objekt. Das Material für ihre Versuchsmodelle findet sie St.Galler Künstlerin oft an unvermuteter Stelle und konstruiert damit bis ins Detail durchdachte Anordnungen, die den Blick selbst dann öffnen, wenn Monika Sennhauser bekannte, alltägliche Dinge verwendet. Zum Beispiel im Architekturforum: Mit NOWS 1 und NOWS 2 hat die Künstlerin zwei Installationen eigens und temporär für die aktuelle Ausstellung entwickelt. Vier Tische, fünf Spiegel sind das Vokabular beider Arbeiten, das Ergebnis sind hochkomplexe Wahrnehmungsstudien.

Monika Sennhauser erhielt vor zwei Jahren den Werkbeitrag der Stadt St.Gallen für ihr Projekt WHERE IS THE SUN NOW AND HERE AND THERE. Zusammen mit Teilnehmern aus der ganzen Welt wurden zu einem festgelegten Zeitpunkt an verschiedenen Orten der Welt Videoaufzeichnungen der Sonne vorgenommen. Im Architekturforum präsentiert Sennhauser nun das Ergebnis dieser Untersuchungen und bringt die Drehung der Erde ebenso ins Bewusstsein wie die Verfügbarkeit hochentwickelter Technik, die globale Vernetzung mittels neuer Medien, und die dennoch sich behauptende Vielfalt der Kulturkreise.

Anfangs arbeitete Sennhauser mit selbst konstruierten Lochkameras. Mittlerweile nimmt das Medium Video mehr und mehr Raum ein in ihrem Werk. So zeigte sie beispielsweise vor wenigen Jahren im Nextex an der Schmiedgasse ihre videobasierte Installation HIGH NOON Projektionen / Projections, 2011. Ebenfalls 2011 filmt Sennhauser zwei Himmelsausschnitte. Die daraus entstandene Arbeit Zwei Fenster 2011, Pissarro – Newman ist im Architekturforum erstmals zu sehen und bezieht sie sich auf zwei Maler, denen wenig gemein zu sein scheint und deren frappante Verwandtschaft die Künstlerin mit ihrem Werk herausarbeitet. In ihrem Video verschränkt Monika Sennhauser den Verweis auf die geteilten monochromen Flächen Newmans mit jenem auf den zweigeteilten Himmel im Gemälde Pissaros „Birnbaum in Montfoucault“ (1876) aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich.

Monika Sennhausers Arbeiten spüren dem ästhetischen Reiz bekannter Erscheinungen nach.  Die Ausstellung lässt Bekanntes neu sehen und sensibilisiert für Licht, Farb-, Form- und Flächenverhältnisse in Raum und Zeit.

Pressetext zur Ausstellung

Kopfreisen und Kantonsausblicke

Im Kulturraum des Kantons ist die Ausstellung „Bellevue GTA 1849 – 2070“ zu sehen. Sie lässt das ehemalige Reliefzimmer des Kantons auferstehen und schafft intelligente Bezüge zur heutigen Computerspielewelt.

Hinter der Doppeltüre ein kurzer, breiter Gang und dann öffnet sich gross und weit der Kulturraum am Klosterplatz. Eigentlich. In der aktuellen Ausstellung ist das Raumerlebnis ein völlig anderes: Anastasia Katsidis und Rolf Graf haben eine Zeitschleuse gebaut. Der Gang ist schmaler, länger und führt nach einer Kehrtwendung in einen kleineren Raum und zugleich hinaus ins Freie: Ein temporär eingebautes Zimmer zeigt virtuelle Ausblicke aus dem Kanton St.Gallen. Sie sind mehr als 150 Jahre alt und stammen vom Innerschweizer Maler David Alois Schmid. Die Veduten waren Bestandteil des Reliefzimmers des Regierungsgebäudes. Die Kantonsregierung hatte es Mitte des 19. Jahrhunderts in Auftrag gegeben, um die Schönheit des Kantons zu feiern und Gästen in kompakter Form zu präsentieren. Damit ist das Zimmer ein direkter Vorläufer heutiger Multimediaschauen. Und es bot sogar eine dreidimensionale Attraktion, denn in der Raummitte war ein Relief des Kantons St.Gallen zu sehen, modelliert von Carl August Schöll, dem führenden Geoplastiker seiner Zeit. Bis an die Weltausstellung 1855 in Paris wurde es transportiert, aber 1972 dann doch zerstört – es entsprach den damaligen Bedürfnissen nicht mehr.

Und der Freskenzyklus? Schon 1920 war er übermalt worden. Als man ihn vierzig Jahre später wiederentdeckte, wurden die Landschaftsbilder zerteilt und restauriert. Vor drei Jahren schliesslich folgte eine zweite Restaurierung dessen, was noch erhalten ist. So gibt es von der Wanddekoration nur noch Fragmente. Aber das tut den Landschaftsbildern keinen Abbruch, im Gegenteil. Die beiden Kunstschaffenden verzichten in ihrer Rekonstruktion des historischen Raumes darauf, einen bunten Abklatsch des einst Vorhandenen zu schaffen. Statt dessen sorgen die unbehandelten Hartfaserplatten der Wände und die schwarzweissen Reproduktionen von Fotografien nicht erhaltener Wandteile für einen deutlichen Kontrast zu den Malereien. Deren zarte, teilweise verblichene Farben kommen vor dem reduzierten Hintergrund erst recht zur Geltung. Wie Fenster öffnen sie sich hinaus in die Bündner Herrschaft, Richtung Walensee und Glarner Alpen oder zum Alpstein hin.

Die Augen gehen auf Reisen, das Hirn reist mit. Dies war das Ziel der Fresken Schmids und dies funktioniert ebenso im anschliessenden Raum der Ausstellung. Hier projiziert Rolf Graf Videomitschnitte von Computerspielsequenzen auf die grossen Wände. Es sind Spiele ganz unterschiedlichen Inhalts von der Welteroberung oder dem Weltentwurf über die Fahrt im Führerstand einer Lok bis hin zu einer experimentellen Geschichte. Auch in ihrer Grafik unterscheiden sich die Spiele sehr. Es gibt die üblichen 3D-Simulationen, aber auch ein Spiel mit reduzierter Scherenschnittästhetik und beinahe völligem Verzicht auf Farbe. Rolf Graf schlägt mit dieser Installation eine Brücke zu den illusionistischen Techniken der Vergangenheit. In der Gegenüberstellung zeigt sich, dass die Welt der Vorstellung nicht davon abhängt, dass der reale Raum so gut wie technisch möglich imitiert wird. Im Gegenteil, sie braucht Freiraum. So wie in David Alois Schmids Bildern: Zwei Drittel der Bildfläche sind von Himmel bedeckt.

Aber auch im realen Stadtraum finden sich noch Stellen, die sich dem direkten Erleben entziehen und stattdessen Platz für die Vorstellungskraft bieten. Anastasia Katsidis beleuchtet das Dach des Staatsarchivs mit grellweissen Blitzen. Die markante Architektur ist nicht zugänglich und wird nun zur Bühne für ein imaginäres Geschehen. Die Kopfreisen beginnen von Neuem.

Podcastradio für alle von allen überall

Sozialarbeit braucht zwischenmenschlichen Kontakt und persönliches Engagement, dann kann sie die Gesellschaft positiv verändern, sie mitformen. Letztere sind seit der Aufklärung zentrale Ziele der Kunst. Daran gearbeitet wird bis heute, beispielsweise von der Italienerin Marinella Senatore.

Kunst und Sozialarbeit haben zusammengefunden – spätestens seit Beuys´ „sozialer Plastik“. So richtig präsent wurde die interdisziplinäre Zusammenarbeit in den 1990er Jahren. Ein alter Hut also angesichts der schnelllebigen Kunst? Solange die gesellschaftlichen Fragen im sozialen öffentlichen Raum ungelöst sind, solange das Gemeinwesen erhebliches Entwicklungspotential aufweist, solange werden Künstlerinnen und Künstler in der sozialen Partizipation ein ergiebiges Betätigungsfeld finden. Marinella Senatore (*1977) ist eine von ihnen. Die Künstlerin bringt tausende Menschen zusammen; Laien und Profis, Handwerksleute und Studierende, Arbeitslose und Kulturschaffende. Oft sind ihre Projekte langfristig angelegt und funktionieren an mehr als einem Ort, in mehr als einem Land. In der Kunst Halle Sankt Gallen stellt sie beispielsweise die „School of Narrative Dance“ vor. Die kostenlose Schule will das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden stärken, indem sie lernen, ihre Fähigkeiten aus eigenem Antrieb weiterzuentwickeln und sich in verschiedensten Kulturtechniken üben. Der erste Schritt ist für viele schon, dass sie überhaupt einbezogen werden, zumindest gilt das für die Menschen auf Sardinien mit seiner vergleichweise hohen Arbeitslosen-, Kriminalitäts- und Analphabetenrate – in Schweden mag das anders aussehen. Ein Projekttagebuch zeigt die Stationen der mobilen Schule und ist zugleich das fassbarste Element der Arbeit, weil es den Umfang der Idee vermittelt. Alles andere, wie etwa das grossformatige Foto einer Performance, Zeichnungen von Unterrichtssituationen oder Filmausschnitte, bleibt anekdotisch.

Deutlich zeigt sich in der Ausstellung der Widerspruch zwischen einer auf direkte Prozesse angelegten Arbeitsweise und dem Wunsch nach ästhetischer Reflektion. Die Notizen zur Musicalproduktion „Speak Easy“ etwa sind für sich genommen sehenswert, wirken vor dem Hintergrund der eigentlichen Arbeit aber eher illustrativ als dokumentarisch. So tut es der Ausstellung gut, dass Senatore eigens für St.Gallen ein neues Projekt lanciert hat: Estman Radio, ein permanentes, kostenloses Podcast-Radio. Alle sind eingeladen mitzuwirken und Gedanken, Reden, Musik und alles, was sonst noch akustisch funktioniert, einzusenden oder direkt in der Radiokabine aufzuzeichnen. Die Ausstellung dient als Plattform, um eine neue produktive Gemeinschaft ins Leben zu rufen, die weit über die Räume der Kunsthalle hinauswirkt.

Marinella Senatore „Public Secrets“, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40, 9000 St.Gallen, www.k9000.ch

Aktuelles Projekt: www.estmanradio.com