Ulrike Kristin Schmidt

Gesammelte Texte

Obacht «Farbe»
Auftritt Zora Berweger

Reliefs sind das Bindeglied zwischen der zweidimensionalen und der dreidimensionalen Welt. Sie besitzen die flächige Qualität eines Bildes und die räumliche eines Objektes. Zora Berweger arbeitet schon seit längerem aus diesem Grund mit Reliefs und reizt deren Grenzen beiderseits weiter aus: in Richtung Malerei als auch in Richtung Objekt. Die gebürtige Bernerin ist Bürgerin von Stein AR und hat bereits zweimal den Werkbeitrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung erhalten. Sie formt ihre Reliefs unter anderem aus Salzteig, ein Material, das eher als Bastelmaterial bekannt ist denn als künstlerischer Werkstoff – und doch ist es für Zora Berweger genau das richtige: Er ist einfach herzustellen, leicht zu verarbeiten und besitzt eine besondere, raue Oberfläche. Salzteig besteht aus Getreide, Salz und Wasser. Angetan vom archaischen Charakter des Materials verzichtet die Künstlerin sogar darauf, ihre Objekte zu backen, sondern lässt sie einfach trocknen. Dazu passt auch die Bearbeitung mit der blossen Hand: «Ich will nicht gegen das Objekt arbeiten. Das Material fasziniert mich und ich untersuche, welch künstlerisches Potenzial darin steckt, welche Kraft es hat und welche aus den gewellten, den graden Linien und den einfachen Formen kommt.» Die Farbgebung unterstützt diese Kraft. Um nicht gegen das Objekt und seine fein strukturierte Oberfläche zu arbeiten, sprüht die Künstlerin die Farben flach und von den Seiten her auf. Damit betont sie die Dreidimensionalität des Reliefs. Zugleich verschwinden die Grenzen von Lichteinfall und Farbauftrag.
Hier hat die Künstlerin von der einen Seite her pink gesprüht, von der anderen her grün; damit entsteht eine irisierende Wirkung. Der ebenfalls abgebildete Farbkontrollstreifen ist wichtig für jede Reproduktion von Kunstwerken, denn die Kamera reagiert verwirrt auf besondere Farb- oder Lichtsituationen. Druckmaschinen hingegen sind stoisch: Sie verarbeiten die vorliegende Farbinformation, sie interpretieren nicht. Nur die Menschen an der Maschine können das Druckergebnis steuern und perfektionieren. Indem Zora Berweger den Farbkontrollstreifen integriert, verweist sie auf die Übersetzung: Das eigentlich spannende Objekt besteht aus Salzteig, hier ist es nur abgebildet. Aber es ist gestanzt, so lässt es sich herausnehmen. Dann jedoch fehlt auch der fotografierte Schatten – die Reproduktion wird zu einem neuen, eigenständigen Werk.

Obacht Kultur, Farbe, No. 46 | 2023/2

Kooperationen auf der Insel

Die 17. Ausstellung der Kunsthalle[n] Toggenburg führt in Nesslau ein sehenswertes Inseldasein: Auf Helgoland in der Thur haben knapp zwanzig Künstlerinnen und Künstler für zwei Wochen eigens entwickelte Werke installiert.

Wer nach Helgoland reist, nimmt die Fähre oder den Helikopter – oder die S2 Richtung Nesslau-Neu St. Johann. Vom Endbahnhof der S2 sind es 15 Minuten zu Fuss; am Feldrain und ein Stück der Thur entlang und schon kommt die Insel in Sicht. Nicht jene in der Nordsee freilich, aber ihre Namensschwester im Toggenburg: «Helgoland» ist im Gemeindeverzeichnis als offizieller Name des 1808 m2 grossen Eilands vermerkt. Zustande kam er während des ersten Weltkrieges, als Flüchtlingskinder aus Norddeutschland auf dem Kloster-Areal des Johanneums aufgenommen wurden. Für viele ist das Landstück aber einfach das Inseli: eine kleine, grüne Oase mit Kapelle und Grillplatz, mit Blockhütte und Baumschaukel – und nun für zwei Wochen mit Kunst.
Helgoland ist in diesem Jahr Schauplatz des 17. Ausstellungsprojektes der Kunsthalle[n] Toggenburg: «1808 m2» ist eine Ausstellung unter freiem Himmel, jederzeit zugänglich und ohne Kasse. Das inoffizielle Motto dieses Jahr sind die Kooperationen, die Arbeit an Aufgaben, die sich gemeinsam viel besser bewältigen lassen. Wie genau dies umgesetzt wird, war den Künstlerinnen und Künstlern freigestellt. So haben sich Duos gebildet oder es wird mit Mikroorganismen kooperiert oder das Wasser arbeitet mit. Auch die Menschen aus dem Johanneum haben mitgewirkt. Sie strickten gemeinsam mit Madame Tricot wollene Pilze, die über das ganze Areal verteilt aus dem Boden zu schiessen scheinen. Pilze, verbunden durch ihr Myzel, sind das perfekte Bild für erfolgreiches Netzwerken.
Auch Hanes Sturzenegger integriert Mikroorganismen in sein Projekt: «Bleibe» ist von aussen wenig mehr als ein schlichter Holzkasten unter dem First des Blockhauses. Innen jedoch reproduzieren sich lokale Mikroorganismen. Deren Enzyme dienen dann schliesslich der Verfeinerung von Speisen, hier wird experimentell eine kulinarische und künstlerische Zusammenarbeit erprobt. Wie «Bleibe» wirken einige Werke im Verborgenen, andere fallen stärker ins Auge. So beispielsweise die leuchtend pinkfarbene «Femme Fatale» von Müller Tauscher. Sie sitzt an der Feuerstelle und will all jenen, die zum Bräteln kommen, auf die Grillspiesse schauen: Steckt dort Veganes oder Fleischliches? Lasst Euch das Würstli schmecken, aber denkt mal drüber nach…
Andere gesellschaftliche Fragen thematisieren Marc Lohri und Simon Fürstenberg oder Doris Willi und Martin Benz. Das erstgenannte Duo hat «Vorzeichen der Veränderung» ausgesteckt: Die hohen Visierstangen spielen auf Bauprojekte an, die im Landschafts- und im Stadtraum der dicht besiedelten Schweiz regelmässig für Diskussionen sorgen. Auf der kleinen Insel fallen sie in ihrer Grösse – auch im Vergleich zur Kapelle – besonders ins Auge. Direkt daneben haben Benz und Willi eine Lochkamera platziert und ein Beobachtungsfeld umrissen. Wer oder was hier zu welchen Zeiten aufgenommen wird, bleibt im Dunkeln des schuhkartongrossen Kastens verborgen. Sind es die Leute im Hamsterlaufrad? Simon Kindle und Vincent Hofmann haben «Das Eirad» installiert. Es erinnert an Kleintierzubehör und lässt sich benutzen. Für das Publikum bleibt es allerdings gesperrt, denn das bewegliche Oval ist nicht ganz ungefährlich – so wie das ganze Leben mit seinen Aufs und Abs. Bei letzteren helfen manchen Menschen Lebensweisheiten oder die Nähe zur Natur. Darauf beziehen sich Rebecca Koellner und Claudia Zimmer mit «Der Fluss nimmt uns mit». Sie haben auf Baumstämme lyrische Sätze geschrieben und regen zu einer bewussteren Wahrnehmung der Natur und des Selbst an.
Einen «Perspektivwechsel» inszeniert Sonja Rüegg. Sie kooperiert mit arthur#12 und wandelt eine frühere Installation ab: Sie bringt Spiegel an der Schutzhütte auf der Insel an. Sie lassen die Hütte verschwinden, indem sie die Natur reflektieren – eine ebenso schöne wie hintersinnige Geste: Wo hört die Natur auf, wo fängt sie an? Wie bewegt sich der Mensch in ihr? Dazu passt «Meins» von Rosemarie Abderhalden und Ursula Anna Engeler. Die beiden haben zwei Quadratmeter Inselfläche abgesteckt und eine Hängematte darüber gebunden. Damit thematisieren sie sowohl den menschlichen Raumbedarf in der Natur wie auch die Bedeutung der Natur fürs Wohlbefinden.
Spätestens beim Verlassen der Insel kommen die «Lichttöggel» in den Blick: Marcel Cello Schumacher kooperiert mit der Thur. Mehrere Dutzend Schwimmkörper aus dem Angelbedarf hängen geordnet über dem Fluss. Das Wasser versetzt die neonfarbenen Töggel in Bewegung und sorgt für ein sich ständig änderndes, eindrückliches Bild. Auch Sebastian Herzog und Nico Feer nutzen die Kraft der Thur: Sie haben an der Brücke zwei Velos installiert, deren Räder sich dank des Flusses drehen und die «Thur-Velharmonie» zum Klingen bringen.
Nach dem Rundgang grüsst noch einmal die «Hüterin der Tiefe», sie hat das Publikum bereits willkommen geheissen. Andy Storchenegger hat diese Beschützerin mitten im Fluss installiert. Sie wacht über alles: die Menschen und das Wasser, die Natur und den Ort, die Kunst und die Enten, die unbeeindruckt um sie herumschwimmen.

Digitalisierte Natur

Timur Si-Quin thematisiert die Grenzbereiche zwischen zwei Systemen. Das können Ökosysteme sein, aber auch die beiden Pole Technik und Natur. In der Kunsthalle Winterthur zeigt der Künstler drei digitale Transformationen von Naturbeispielen.

Winterthur — Walter Benjamins Überlegungen zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit werden bald 100 Jahre alt. Und sie sind aktueller denn je in Zeiten der digitalen Bild- und Filmwiedergabe im Hosentaschenformat und der sogenannten Sozialen Medien. Zudem berühren sie Fragen, die nicht nur für das Kunstwerk gelten, sondern neuerdings auch für die Natur: Welchen Einfluss hat die Reproduzierbarkeit auf Naturerlebnisse? Was passiert, wenn digital erzeugte Bildwelten das Original nachahmen? Gibt es Wechselwirkungen? Timur Si-Quin interessiert sich für Übergangsbereiche zwischen dualistischen Konzeptionen. So versteht der 1984 in Berlin geborene Künstler Technik und Zivilisation nicht als Gegenspieler zu Natur, sondern sieht Interaktionen und Durchdringung. Seine Ausstellung in der Kunsthalle Winterthur stellt er unter den Titel «Ecotone Dawn« und bezieht sich damit auf die Zone zwischen zwei Ökosystemen oder Biotopen. Sie sorgt für Austausch und Artenvielfalt, aber auch für Druck auf beiden Seiten, wenn neue Einflüsse wie etwa der Klimawandel dazu kommen. Das Ökoton dient Timur Si-Quin als inhaltliche Klammer für die Ausstellung. Er übersetzt drei Naturbeispiele aus verschiedenen Weltgegenden in Digitalisate: Die Abendstimmung über die saudiarabischen Oase al-´Ula ist als gerendertes Panorama in vier querformatigen Leuchtkästen zu sehen. Ein Baumstrunk an einem Pilgerweg in Thailand wurde eigescannt, als Plastik per 3D-Verfahren ausgedruckt und bemalt. Basierend auf Pflanzen im Bundesstaat New York simulieren Renderings ein Waldstück. Über die statischen Bilder sind bewegte Schattenwürfe projiziert, so dass eine lebendige Stimmung entsteht. Die drei Werke sind technisch perfekte Transformationen. Das gilt auch dort, wo sich der Künstler entscheidet, notwendige Übersetzungshilfen stehen zu lassen. So wurden beim Baumstrunk die Materialstege nicht entfernt, die für die Stabilität beim 3D-Druck notwendig sind. Sie sorgen für Kippmomente in der Natursimulationen. Die perfekte Illusion per Rendering ist möglich, wird aber von Timur Si-Quin gezielt vermieden. Das Original als Referenzobjekt wird nicht abgelöst, sondern ist wie bei der Mona Lisa noch stärker in den Fokus gerückt: Sich eine hochaufgelöste Abbildung aus dem Netz herunterzuladen, gilt nicht als Ersatz für eine Reise oder für den eigenen Augenschein. Im Gegenteil: Nur das selbst aufgenommene Foto vom Original zählt.

→ Kunsthalle Winterthur, bis 17. September
↗ www.kunsthallewinterthur.ch

Andrea Ehrat, Dorian Sari

Schaffhausen — Kontraste prägen das Bild: Weiss kontra Schwarz. Wandarbeiten kontra Plastiken auf einem zentralen Sockel im quadratischen Raum. Gegenständliche Abbilder und Objekte kontra abstrahierte oder abstrakte Formen. Die Arbeiten von Dorian Sari (1989) und Andrea Ehrat (1971) haben wenig Gemeinsamkeiten. Sie in einer Ausstellung miteinander zu kombinieren, ergibt dennoch Sinn. Das Ausstellungsformat «DOPPIO» im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen entlehnt seinen Titel dem doppelten Espresso, und so wie dort das zweifache Koffein enthalten ist, wirkt auch die Zusammenschau der Positionen für beide als Verstärker von Form und Aussage. Andrea Ehrats Arbeitsmaterial ist Gips. Ein wiederkehrendes Element sind abstrahierte, meist einzelne, weibliche Brüste. Sie werden ragen hoch auf oder sind zu einer Dolde verwachsen, werden mit Seilen und Stricken aus Naturmaterialien gebündelt, geknebelt, abgebunden. Auf den menschlichen Körper beziehen sich auch die verlängerten, deformierten Gliedmassen. Hier wie bei einem Haus auf Schlittschuhkufen oder auf einem Knie setzt Ehrat deutliche Referenzen an den Surrealismus. Die in Zürich lebende Künstlerin mit Schaffhauser Wurzeln bringt ihre Gedankenwelt in dreidimensionale Form und liefert dennoch allgemeingültige Kommentare zu den Zwängen und der Fragilität der menschlichen Existenz. Hier findet sich eine Schnittstelle zu Dorian Sari. Der in der Türkei geborene, in Basel und Genf lebende Künstler zeigt beispielsweise eine schwarze Lederjacke, der eine Pistole im Rücken sitzt, oder die zehnteilige Fotoserie «Surrender»: Ein Mann trägt eine Mütze mit einem kleinen Propeller. Letzterer ist in verschiedenen Positionen zu sehen, so als könne er sich drehen, aber der Mann hebt nicht ab. Zu stark ist die Erdhaftung, Leichtigkeit und Fliegen bleiben eine Utopie. Der zu einer monumentalen, schwarzen Fläche erweiterte Oberkörper unterstützt diese Schwere, während sich durch die Reihung das im Titel genannte «Aufgeben» immer aufs Neue wiederholt. Auf noch fatalere Weise der Schwerkraft unterworfen ist der an einem Fuss aufgehängte Mann: In einem Schwarzweiss-Video baumelt er kopfüber endlose sieben Minuten fast unmerklich langsam. Das Individuum ist ausgeliefert. Aber hier wie bei Ehrat wird es in einer starken Ästhetisierung gezeigt. Die Reduktion auf weiss in den Arbeiten der Künstlerin und auf schwarz in jenen des Künstlers, die Entrücktheit trotz der auf das Individuum oder den Körper einwirkende Kräfte sind die Schnittstelle zwischen beiden Werken.

→ Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, bis 17.9.
↗ www.allerheiligen.ch

Lang/Baumann

Teufen — Lang/Baumann arbeiten ortsspezifisch, in grossen oder sogar monumentalen Formaten und nicht selten mit permanenten Installationen. Eine Überblicksschau des Duos L/B alias Sabina Lang (1972) und Daniel Baumann (1967) ist also kaum möglich. Im Zeughaus Teufen funktioniert die Retrospektive trotzdem: Statt der Kunst selbst sind 96 Modelle in Szene gesetzt, die wiederum von Kunst gerahmt werden. Dabei stiehlt keines dem anderen die Show. Die Modelle leben von ihrer Materialität, dem Spiel zwischen Holz, Gips, Kunststoff, Pappe oder Metall, von den Spuren der Zeit und von ihrem Stellvertretercharakter. Hier muss nichts perfekt sein, da dürfen auf den Rückseiten auch Notizen oder Klebstoffreste gezeigt werden. Die eigens gefertigte, goldfarbene Installation «Comfort #21» wiederum bildet Folie und Bühne für die Modelle: Passgenau liegen zu beiden Längsseiten des Ausstellungssaales drei luftgefüllte Schläuche übereinander. Sie lassen Fensternischen und Heizkörperverkleidungen verschwinden und formen eine egalisierende Kulisse, so dass den Modellen der ungestörte Auftritt zukommt. Letztere entstehen seit 33 Jahren. An ihnen lassen sich Werkgruppen ablesen, hier werden Farb- und Formvorlieben deutlich oder der Fokus auf den öffentlichen Raum – die Modelle sind mehr als nur ein Ersatz für die Originale, sie sind geeignete Anschauungs- und Studienobjekte en miniature.


→ Zeughaus Teufen, bis 1.10.
↗ zeughausteufen.ch

Klang Moor Schopfe

Gais — Dreimal hat das Festival bereits stattgefunden. Dreimal hat sich das Hochmoor Gais für jeweils zehn Tage in ein Labor für soundkünstlerische Erkundungen verwandelt. Nun gibt es die vierte Ausgabe – das Festival kann als etabliert gelten. Sein Erfolgsrezept ist nicht zuletzt die einzigartige Kombination: Die Holzscheunen, die Ausserrhodische Moorlandschaft, das Schützenhaus an der Schiessanlage treffen auf internationale Soundexperimente. Oft entstehen diese vor Ort. So hat in diesem Jahr das Schweizer Kollektiv Zaira Oram eine Carte Blanche erhalten und erweitert sein interdisziplinäres ‹Oto Sound Museum› um eine Künstlerresidenz in Gais. Der Spanier Juan José López und der Schweizer Ludwig Berger eröffnen mit ihrer Installation ‹Insect Rhythmic Union› einen Zugang zu den im Moor lebenden Insekten. Das US-amerikanische Kollektiv MSHR entwickelt eine ortsspezifische Installation auf der Basis digitaler Räume, analoger Hardware und Performances. In der Arbeit dieses Duos spielt wie bei vielen der zwei Dutzend Teilnehmenden hochspezialisierte Technik eine wichtige Rolle in der Klangforschung; geerdet wird sie in den Klang Moor Schopfen durch die Natur, das genaue Hinhören auf die Töne vor Ort und durch den Einbezug vorhandener Materialien – auch die Bretterwände eines Schopfes können zum Klingen gebracht werden.

→ Klang Moor Schopfe, bis 10.9.
↗ klangmoorschopfe.ch

Melike Kara

St.Gallen — Grosseltern zu haben, kann etwas Wunderbares sein. Wenn sie aus ihrer Kindheit und Jugend berichten, erklingt eine lange vergangene Zeit; sie beherrschen Kulturtechniken, die heute verloren gegangen sind; oft erzählen aus einer Heimat, die eine andere ist als die der Enkelgeneration. Auch für Melike Kara (*1985) ist ihre inzwischen verstorbene Grossmutter eine besondere Persönlichkeit – ihr hat sie die Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen gewidmet: ‹Emine’s Garden› wurzelt in Karas kurdischer Familiengeschichte und reicht weit darüber hinaus. Die in Köln lebende Künstlerin sammelt Fotografien aus ihrem familiären und erweiterten Netzwerk. Sie trägt damit einerseits zu einem Archiv der bisher nicht systematisch erfassten kurdischen Traditionen bei und generiert andererseits einen Bildfundus für ihre eigene Arbeit. Ausgewählte Fotografien hat sie für die Ausstellung grossformatig ausgedruckt und auf dem Boden ausgelegt. Weisse Farbe überzieht wie ein milchiger Schleier die Bilder und gleicht sie einander an. So richtet sich die Aufmerksamkeit stärker auf die darüber ausgelegten Gipsornamente und die ebenfalls in der Horizontale präsentierten, ungegenständlichen Gemälde. Aus der gesamten Installation spricht die Freude am eigenen kulturelle Erbe – mit spielerischer und doch grosser Geste verwandelt es die Künstlerin in eine zeitgemässe Form.

→ Kunst Halle Sankt Gallen, bis 24.9.
↗ www.k9000.ch

Macht und Aberglaube in verführerischen Farben

Der britisch-kenianische Künstler Michael Armitage zeigt im Kunsthaus Bregenz seine Ausstellung «Pathos and the Twilight of the Idle». Zu sehen sind grossformatige Gemälde zu tagespolitischen Themen und zu afrikanischen Mythen.

Lubugo wird als Leichentuch verwendet, als Unterlage für die Waren am Markt, als Verpackungsstoff. Hergestellt aus der Rinde des ugandischen Feigenbaumes dient das Material vielfältigen Zwecken. Michael Armitage nutzt es für seine Gemälde. Der Künstler mit kenianischen Wurzeln wählt damit einen Bildträger, der lokal und praktisch eingesetzt wird. Damit verweist er nicht nur auf seinen Bezug zum afrikanischen Kontinent, sondern verleiht auch seinen künstlerischen Arbeiten einen aussergewöhnlichen Charakter: Lubugo hat Löcher, ist unregelmässig und muss für grosse Formate aus mehreren Stücken zusammengesetzt werden. Deshalb haben die Gemälde von Armitage Nähte, Lücken und eine strukturierte Oberfläche. Gezielt baut Armitage diese Details in seine Kompositionen ein. «Dandora» beispielsweise zeigt Musikerinnen und Musiker in einem Halbkreis, einer zieht eine Geiss aus dem Bild, Schweine entspringen einem Hirn, eine Kuh dreht ihr Hinterteil der Runde zu. Eine Naht läuft wie eine Kotspur aus dem After senkrecht nach unten. Mit dem Bildtitel verweist der Künstler auf eine riesige Mülldeponie in Nairobi. Die Menschen dort suchen in dem tonnenweise angeliefertem Abfall nach Verwertbarem.

Mechanismen der Macht

Armitage zeigt den Schmutz, die Armut, aber auch den Zusammenhalt und die kulturellen Spuren. Das Bild hängt im ersten Obergeschoss des Kunsthauses Bregenz. Versammelt sind dort Gemälde des Künstlers, die sich politischen Themen widmen. Es geht um Macht und die Mechanismen dahinter, um Demokratie und Manipulation. In einem Gemälde mit Rednerpult und Kristallkugeln untersucht er zum Beispiel unterschiedliche Rollen und Erwartungen: Wenn ein Politiker auftritt, wollen die Menschen ihn hören? Oder ist es anders herum? Wer folgt wem? Wer formt wen? Mit welchen Konsequenzen?
Seine Fragen und Botschaften verpackt Michael Armitage in opulente Bilder. Die Inhalte stehen nicht im Vordergrund, sondern die Lust an der Malerei. Der Künstler greift dabei immer wieder auf die reiche europäische Kunstgeschichte zurück. Elemente des Symbolismus mischen sich mit solchen des Jugendstils; es gibt Referenzen auf Motive von Hans Holbein, den Bildaufbau bei Tizian oder die Figurendarstellungen von Edgar Degas. Die menschliche Figur steht in Armitages Gemälden oft im Zentrum. Eingebettet ist sie in Naturschilderungen und ornamentalen Formen.

Tänze und Teufelsaustreibungen

Kennzeichnend sind fliessende Linien und weiche Konturen. Gestalten bleiben schemenhaft, Farbkontraste sind wirkungsvoll inszeniert. Dies zeigt sich vor allem in den Werken im zweiten und dritten Obergeschoss – das Erdgeschoss ist diesmal für eine andere Künstlerin reserviert: Dort zeigt Anna Jermolaewa, eine russische Dissidentin, die Österreich 2024 an der Biennale Venedig vertritt, aktuelle Arbeiten.
Michael Armitage präsentiert im zweiten Obergeschoss des Kunsthauses Arbeiten zum Thema Mythos und Aberglaube. Sowohl die Dämonisierung psychisch Kranker findet hier ihren Ausdruck als auch Teufelsaustreibungen oder rituelle Tänze. Hier fällt besonders die ausgetüftelte Hängung in den Blick: Zwischen den sechs gezeigten Gemälden ergeben sich Blickachsen aus den Bildern heraus zum nächsten. Im dritten Obergeschoss ist das weniger gelungen, die zusätzlich aufgebaute Wand ist ein Fremdkörper in der klaren Architektur des Ausstellungssaals. Zumal auch hier wieder sechs Gemälde zu sehen sind – eine zusätzliche Wand verstellt nur unnötig den Blick auf Armitages virtuos ausgeführte Malerei, seinen meisterhaften Umgang mit Farbe und Komposition.

Erstens, zweitens, unendlich

Barbara Signer verwandelt die Kunsthalle Arbon in einen Parcours der Möglichkeiten. Sie inszeniert Portale und verwandelt die reale Welt in einen magischen Vergnügungspark.

Portale sind Tore zu anderen Welten: Goldene Ringe öffnen Durchgänge zu weit entfernten Orten, auf dem Gleis Neundreiviertel treffen sich Zauberschüler und in einem Kleiderschrank beginnt das magische Land Narnia. Die Gestalt der Portale ist ebenso vielfältig wie ihre Macht, aus der Realität herauszuführen. Das funktioniert in Romanen, Filmen oder Computerspielen genauso wie in der Kunst. Es ist alles eine Frage der Vorstellungskraft. Darauf vertraut Barbara Signer in ihrer aktuellen Ausstellung. Die Künstlerin hat in der Kunsthalle Arbon vier Portale aufgestellt und sie der Unendlichkeit gewidmet. Aber wie sollen ein Bogen aus Luftballons, ein Teich, ein Prisma mit Strassenlaternen und eine Bank unter eine Blume in die Ewigkeit führen? Aus einiger Entfernung wirken diese Objekte etwas verloren in der riesigen Lagerhalle mit ihrem schroffen Asphaltboden, den Stahlträgern und Stützen. Das ändert sich rasch beim Näherkommen: Diese Präsentation ist nicht für einen festen Standort entwickelt, sondern will erkundet werden. Erst dann entfaltet sich die besondere Stimmung zwischen Unterhaltung und Verlorenheit, zwischen Vergnügungspark und Endzeitkulisse.

Teich statt Kuchentafel

An den Anfang stellt die Künstlerin ein Tor aus Luftballons. Deren zarte Farben verheissen unbefangene Festlaune, aber statt auf eine Kuchentafel fällt der nächste Blick auf einen tiefschwarzen Teich. Eine einsame Strassenlaterne spiegelt sich in der glatten Wasseroberfläche. Jetzt bloss nicht hineinfallen, vielleicht führt dieses Portal in eine andere Welt? Vielleicht gibt es kein zurück? Besser weiter, zum nächsten Portal. Kopfüber spiegelt es sich bereits im Teich. Auch dieses Objekt ist rätselhaft. Lilafarbene Verstrebungen bilden ein dreieckiges Gehäuse. An den Aussenseiten befinden sich auch hier Kandelaber. Doch was beleuchten sie? Dort ist keine Strasse und kein Treffpunkt. Auch das Zentrum des Bauwerkes lädt nicht zum Verweilen ein. Durch den dreieckigen Grundriss erzwingt es eine Entscheidung: nach rechts, nach links oder zurück? Barbara Signer gibt den Weg nicht vor. Ihre Ausstellung ist ein Parcours der Möglichkeiten und Übergänge. Eines führt zum nächsten, durch die präzise Gestaltung bietet jedes der gezeigten Werke den Anreiz weiterzuschauen und sich weiterzubewegen.

Ein magischer Steinhaufen

Die Künstlerin kombiniert Elemente aus der realen Welt und eigens entwickelte Objekte. Sie verwandelt Bekanntes in Ungewohntes, fügt zusammen, was bis dahin keine Gemeinsamkeiten hatte, ändert Grössenverhältnisse und erfindet neue Farben. Die berühmte «Endlose Säule» von Constantin Brâncuși beispielsweise hängt in Arbon als Halskette von den Dachträgern. Als Kette ist sie viel zu gross und aber gemessen am rumänischen Vorbild ist sie winzig. Überdies sind die Kettenglieder hellblau und stehen damit in eindrücklichem Kontrast zu den Rostfarben der Halle.
«Cairn» hat die Künstlerin aus Steinen von einem Felssturz am Calanca errichtet. Aus der Mitte dieses Steinhaufens leuchtet kaltes Licht. Nur von einer einzigen Betrachtungsposition aus gleicht es zwei strahlenden Augen: Die leblosen Steine werden zu einem magischen Wesen. Barbara Signer spielt immer wieder mit solchen Übergangsmomenten. Sie inszeniert vieldeutige Situationen und Stimmungen mit dem Potential, sich stetig zu verändern. Mit dem Ausstellungstitel zeig sie dieses Spektrum auf: «The First the Last Eternity» sang die deutsche Band Snap! Mitte der 1990er Jahre. In Arbon beginnt die Unendlichkeit oder sie nimmt ein Ende. Wer die Portale durchschreitet, findet es heraus. Einen Versuch ist es allemal wert.

Kunst unter Obstbäumen

Die Open Air-Biennale im Weiertal widmet sich in diesem Jahr der sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Unter dem Titel ‹Common Ground› vereinen sich 17 künstlerische Positionen mit der von Menschenhand gestalteten Natur des Landschaftsgartens.

Winterthur Wülflingen — 33 mal 33 Meter – so viel Land braucht ein Mensch, um sich pflanzenbasiert zu versorgen. Je nach Wohnort und Herkunftsstaat erscheint dies viel oder wenig Fläche. Wie gross so ein Areal tatsächlich ist, zeigt Uriel Orlow im Kulturort Weiertal. Hier, am Rande Winterthurs, auf einem idyllischen Stück Land mit hoch gewachsenen Obstbäumen, kleinen Weihern und blühenden Sträuchern, hat der Künstler ein Stück Wiese abgesteckt: Vier einfache Markierungen zeigen eindrücklich, was Bodenbesitz bedeuten kann und wie somit Land, Arbeit und Agrarkultur das Leben sichern oder verändern können. Wer aber besitzt diese Ressourcen tatsächlich und wie werden sie genutzt? Was ist der Mehrwert gemeinschaftlicher und fürsorglicher Lebensweisen? Wie funktionieren Räume jenseits konservativer Produktions- und Konsumlogiken? Diese Fragen stehen im Zentrum der 8. Biennale Weiertal, kuratiert von Sabine Rusterholz Petko. ‹Common Ground› beginnt bereits auf dem Weg vom Bahnhof Winterthur Wülflingen zum Ausstellungsort. Die Luzernerin Martina Lussi hat aus lokalen Geräuschen einen Klangraum gestaltet. Die Komposition kann auf eigenen Kopfhörern angehört werden – idealerweise vermengt mit den reichen Umgebungsgeräuschen. Letztere mischen sich auch in die Tonspur von Ishita Chakrabortys Installation mit Alltagsgeräuschen aus Westbengalen und Thesen zum Ökofeminismus inmitten eines Hags aus Saristoffen.
Im Weiertal lohnt sich das genaue Hinhören genauso wie das genaue Hinsehen. So ist etwa der Stapel aus ausgedienten Autoreifen kein achtlos deponiertes Zivilisationsrelikt, sondern ein eigens installiertes Ökosystem von Brigham Baker: Längst haben sich Wasserlachen in Altreifen als Brutplätze etabliert. Immer wieder lenken die Kunstwerke den Blick weg vom Anthropozentrismus hin zur Natur, wenn etwa Reto Pulfer einen Ziergarten für Pflanzen anlegt, die üblicherweise als Unkraut eingestuft werden, wenn Dunja Herzog Bienenvölkern Strohkörbe anbietet, statt der vor allem für die Bienenwirtschaft praktischen Holzkästen, oder wenn Thomas Julier den Biber ins Zentrum seiner Recherchen stellt. Gemeinsam ist allen Arbeiten ihr ephemerer Charakter. Sie fügen sich in den Garten ein, werden ihn aber nach dem Sommer wieder verlassen. Sie behaupten keinen Ewigkeitsanspruch und passen auch damit zum Ausstellungsthema: Ein gemeinsam genutzter Raum bleibt im Idealfall flexibel für neue Nutzungen, für offene Teilhabe und eine sich stetig wandelnde Balance zwischen Natur und Kultur.

→ ‹Common Ground›, Biennale Weiertal, bis 10.9.
www.biennaleweiertal.ch