Jede Suche findet sich im Gehen

by Kristin Schmidt

Die Rotes Velo Tanzkompanie zeigte in der Lokremise St. Gallen ihr aktuelles Stück „Alberto, der Mann, der geht“. Giacomettis Werk ist der Ausgangspunkt für Szenen über die künstlerische Arbeit.

Exequiel Barreras verehrt Alberto Giacometti. Der argentinische Choreograph und Tänzer widmete dem grossen Künstler bereits 2006 ein eigenes Tanztheaterstück. Die zweite Choreographie zu Giacometti entstand im vergangenen Jahr mit der Rotes Velo Tanzkompanie. In der Reihe Nachtzug in der Lokremise war sie zu nun zu sehen. „Alberto, der Mann, der geht“ erzählt vom Unterwegssein und vom fortdauernden Bestreben des Künstlers, seine Wahrnehmung in eine gültige Sprache zu übertragen. Alberto Giacomettis Weg war von Zweifeln und harten Auseinandersetzungen mit der Form geprägt. Wieder und wieder begann er die Arbeit an einem Werk, zerstörte es und begann erneut. Entstanden sind Plastiken von grosser Präsenz, die mit ihrer aufrechten Haltung, der fragilen Gestalt und der sich auflösenden Kontur dem Menschsein entsprechen.

Giacometti verstand sich in seinem künstlerischen Bemühen als Suchender. Ein Bild dafür sind die Figuren des gehenden Mannes. Jeder Weg beginnt mit einem Schritt. Jede Suche findet sich im Gehen – auch im Stück von Exequiel Barreras. Schritte und Blicke korrespondieren miteinander, lenken sich gegenseitig. Die vier Tanzenden fassen die Ferne ins Auge und ihr Gegenüber. Sie finden sich und streben wieder auseinander.

Der Typus des Künstlers ist sowohl in äusserlichen Andeutungen wie etwa gipsverschmierten Hosen als auch in der Rolle des Schöpfers präsent. So vereinen sich Hella Immler, Emma Skyllbäck, Yannik Badier und Exequil Barreras in wechselnden Duetten von Gestalter und Gestaltetem. Eindringlich zeigen sie den Kampf des Künstlers mit seinem Werk, der zuweilen auf engstem Raum stattfindet. Gemeinsam werden zwei zu einer Skulptur, die sich wie Berninis berühmter Raub der Proserpina auf engstem Raum empor schraubt. Immer wieder wechseln die Tanzenden die Seiten, die Grenzen zwischen Schöpfer und Geschöpf verwischen.

Die Tänzerinnen und Tänzer – alle Mitglieder der Tanzkompanie am Theater St. Gallen – begeistern in diesem Stück mit perfekter, in jedem Detail stimmiger Körperarbeit. Das reicht bis hin zum Gesicht. Nicht nur in einem klamaukigen Intermezzo zu Hildegard Knefs „Ich brauch kein Venedig“ ist die Mimik wichtiger Teil des Ganzen, sondern auch in Szenen über das Erschaffen. Hier nehmen die Tanzenden mal den passiven mal den aktiven Part ein, immer aber wirken die Bewegungen stimmig. So entstehen eindrucksvolle Sequenzen über die Wahrnehmung, das Erleben und die künstlerische Arbeit. Ab wann ist ein Werk vollendet? Wann beginnt es zu leben? So wie die Tänzer und Tänzerinnen sich einander annähern, umrunden und berühren, so nähert sich das Stück künstlerischen Gestaltungsprozessen an. Giacometti ist der Anlass – aber das Ringen um die Form endet nie.