Zu sieben Brücken musst Du geh’n (Ausschnitt)

by Kristin Schmidt

Die Oberachbrücke als gute Stube

Was haben Ulrich Loppacher, David Tobler, Melanie Linker und Ulrich Niederer, Zimmergesell von Lutzenberg, gemeinsam? Wer sind oder wer waren sie überhaupt? Sie haben ein Zeichen hinterlassen, haben mit Messer oder Stift dafür gesorgt, dass zumindest ihr Name eine lange Zeit überdauert. Sie haben eine Brücke durch die Jahrhunderte geschlagen. Sie haben sich nie getroffen und waren doch am selben Ort. Ulrich Loppacher am 19. April 1900, David Tobler am 16. März zwei Jahre zuvor, 1898, Melanie Linker am 10. April 1984, Zimmergesell Niederer am 16. April 1843. Wann allerdings Heinrich Graf und Christian Schlegel aus Oberstädeli an diesem Ort waren, ist etwas rätselhaft. Die als MV CCCCXXXIII entzifferbare Jahreszahl hinter ihren Namen könnte 1933 heissen; dass nämlich MCDXXVIII gemeint ist, ist unwahrscheinlich. Dies entspräche dem Jahre 1428, aber der Balken, der Grafs und Schlegels Namen trägt, gehört zur 1739 errichteten Oberachbrücke. Wie ein verlassenes, verlorenes Haus schwebt die gedeckte Brücke zwischen zwei massiven Quadermauern über der Goldach. Das Dach hat Moos angesetzt, die Bretter der Verschalung sind aussen silbrig-grau verwittert und innen von leuchtend grünen Algen überzogen. Die 19 Meter langen Streckbalken sind so dick wie ein Arm lang.

Einst Saum-, heute Wanderpfad, führt der Weg über die Oberachbrücke nach Speicherschwendi oder weiter noch nach Vögelinsegg. Bereits in der Landkarte von Bartholome Bischofberger (1623–1698) aus dem Jahre 1682 war hier ein Steg eingezeichnet. Als er baufällig geworden war, baute Hans Ulrich Grubenmann (1693–1753) – nicht zu verwechseln mit dem berühmten Teufner Namensvetter – mit seinen Söhnen Jakob, Uli und Hans Ulrich die neue Brücke. An ihr studieren wir jetzt die alten Namen im spärlichen Licht. Fenster wie bei vielen anderen gedeckten Brücken gibt es hier nicht. Zwar ist dadurch der Blick nach aussen verwehrt. Doch dies schafft Konzentration und Musse für das Innere. Florian Graf träumt von einem Klavier, fühlt sich mit einem Mal wie in einem Haus, in einem Zimmer. Gerade dies aber funktioniere bei Brücken sonst nicht: «Eine Brücke ist als Bauwerk nicht erlebbar und nicht als Ganzes sichtbar. Ein Haus sehe ich von aussen als Ganzes, kann es betrachten und begehen. Wenn ich eine Brücke be-nutze, dann ist sie als Bauwerk nicht mehr wahrnehmbar. Sie ist dann ein Weg oder eine Strasse.» Für den Künstler Florian Graf ist die Qualität einer Brücke mit der eines Kunstwerkes vergleichbar: «Beides sind Dinge, die man benutzt, um irgendwohin zu kommen, sei es zu sich selbst oder zu neuen Ufern. Sobald man sie begeht, tritt ihre materielle Präsenz in den Hintergrund. Auch Bilder haben eine physische Präsenz. Diese scheint jedoch nicht ihre Idee oder wichtigste Eigenschaft zu sein. Sie führen über sich hinaus an einen anderen Ort oder oszillieren zumindest zwischen der materiellen Erscheinung und ihrer weiterführenden Erschliessung. Kunstwerke sind Erschliessungsobjekte, die (gedankliche, emotionale oder fiktive) Brücken schlagen.»

Vielleicht haben auch die zahlreichen Graffitis ihren Grund im andersartigen Charakter der Oberachbrücke. Schliesslich sind es nicht nur kurze Namens- und Datumseinträge, sondern so mancher Vierzeiler in deutscher Schreibschrift kündet hier vom Verweilen, auch wenn er bis hin zu den Inhalten zotiger Reime eigentlich etwas ganz anderes erzählt. Vieles ist schwer oder gar nicht zu entziffern. Dechiffrierinstinkte beginnen sich zu regen, doch da unser Besuch der Brücke auf den Februar fällt und noch einiges an Weg zu bewältigen ist, verlassen wir die Brücke, wir überqueren sie nicht, sondern gehen aus ihr heraus wie aus einem Haus – durch die Öffnung, durch die wir eingetreten sind.

An die Gmündertobelbrücke langen

Die Gmündertobelbrücke wird überwiegend als Strasse genutzt und wahrgenommen. Wie fast alle Brücken offenbart sie ihre Gestalt dem Überquerenden nicht, obwohl sie 1908 mit ihren 79 Metern die längste Eisenbetonbrücke in Europa war. Selbst der Versuch, sie auf einem inzwischen verwilderten Weg auf der Teufener Seite des Tobels in Augenschein zu nehmen, gelingt nur bedingt. Der Schnee ist hoch, die Äste hängen tief; die Ausblicke sind zwar sehr lohnend, zeigen die Brücke aber nicht in ihrer Grösse. Doch da bietet sich eine besondere Gelegenheit: Die Stahlbetonbrücke wird instand gesetzt und das Baustellengerüst ist nicht abgesperrt. Einmal direkt unter einem Brückenbogen stehen, die Dimensionen des Bauwerkes erfahren, den Beton und seine Risse aus nächster Nähe betrachten, streicheln, auf schmalen Brettern stehend zaghafte Blicke in die Tiefe des Tobels und auf die zahlreichen Ebenen der Baustelle werfen – ein seltenes, sehr eindrucksvolles Erlebnis.

Keine Wege führen zur sprechenden Brücke

Über den Hang hinunter an die Urnäsch kommt Ulrich Vogt die historische Karte von Gabriel Walser in den Sinn. Sie zeigt das Appenzellerland mit seinen Orten, Wasserläufen und Brücken, doch ohne Wege; und ungefähr so lässt es der Winter heute aussehen. Die Wege sind verschwunden, der Schnee liegt als makellose Fläche zwischen den Brückenwandernden und ihrem nächsten Ziel: Eigentlich heisst er Tobelbrücke, jener verborgene Übergang über die Urnäsch zwischen Hundwil und Herisau, wo einst der Landsgemeindeweg durchführte. Der Wegweiser drei Minuten vor dem Ziel nennt ihn jedoch so, wie er jenen bekannt ist, die ihn überhaupt kennen: «Sprechende Brücke». Selbst Salomon Schlatter (1858–1922), dem ersten Grubenmannforscher, blieb das Grubenmannsche Hauptwerk noch verborgen. Grund dafür ist die Lage abseits beliebter Wege, tief unten im Tobel, zu dem es steil hinunter und von dem es ebenso steil wieder hinauf geht, anschaulich beschrieben von Walter Rotach im Heimatbuch für junge Appenzeller (Herisau 1927, S. 51): «Tief unten in der Schlucht kauert das graue, ein wenig verhutzelte Grossmütterchen. Im Strudel der Welt ist es fast vergessen worden. Wer aber doch einmal aus Zufall oder alter Anhänglichkeit zu ihm kommt, den nimmt es gar freundlich auf und lässt ihn nicht von der Hand …».

Auch uns wird es so ergehen. Doch zunächst müssen wir uns am Wegweiser entscheiden: Die Überquerung der Urnäsch ist auch wenige hundert Meter weiter nordöstlich möglich. Wir müssen aber keine Entweder-Oder-Entscheidung treffen, sondern die Reihenfolge bestimmen. Dass wir uns kurz vor der Dämmerung zuerst für die «Sprechende Brücke» entscheiden, wird sich als Vorteil erweisen, denn nicht mehr lange sind sie in der einbrechenden Dunkelheit entzifferbar: die Inschriften auf den Spannriegeln der sechs Gebinde. Von der Geschichte der Brücke ist da zu lesen, von ihren Baumeistern und vom Nutzen eines gottgefälligen Lebens. Nicht nur die letztgenannten Weisungen liessen wohl so manchen Wanderer nachdenklich werden; die historischen Ausführungen sind nicht minder aussagekräftig. Sie künden von Gewalten, die bis heute zur Bewährungsprobe einer Brücke und ihres Baumeisters gehören: «Die vor der stehete Jm Jahr 1722 wohl gebaute brug, Jst da weg geschwämt durch unerdenckliche Große wasser flutt». Das grosse Hochwasser 1778 riss die vorherige Brücke mit sich und noch im gleichen Jahr errichtete Hans Ulrich Grubenmann (1709–1783) für 2773 Gulden die bis heute erhaltene «Hüslibrücke». Stolz ist herauszulesen, wenn auf dem Balken verkündet wird: «Zu wüßen ist daß die Brug 23 schuh Länger ist dan die vor der stehete». Nicht nur Zeichen des Stolzes ist dieser Satz, sondern auch der Besessenheit vom Problem der Spannweite, die Ulrich Vogt dem Baumeister attestiert und die zu Grubenmanns Ruhm einiges beigetragen hat. Vielleicht entsteht auch deshalb bei der «Sprechenden Brücke» der Eindruck, sie werde weniger von der Umgebung vereinnahmt. Ulrich Vogt kommt eine Fotografie in den Sinn, auf der die Brücke wie eine Schmuckschatulle in der Landschaft steht, wie ein Möbel, das Schutz bietet über dem Abgrund.

In diesem Schutz nun also lässt sich gut verweilen. Die Fenster bieten Ausblicke, die Sprüchlein bieten Weit- und Rückblicke. Einmal mehr zeigt sich die Sprache als Brücke – eine Entsprechung, die auch Florian Graf umtreibt: «Sprachsysteme sind Brücken im weitesten Sinn.» Sie ermöglichen es uns, «aus Planungs- und Vorstellungsbereichen Brücken in die gesellschaftliche Realität zu schlagen». Graf denkt dabei auch zurück bis zu den ersten Grossprojekten der Menschheit, etwa  dem Bau der Arche Noah oder dem Turmbau zu Babel mit anschliessender Sprachverwirrung. Von Anfang an war die Sprache das Mittel, Gedanken, Ideen und Konzepte umzusetzen.

Ein Siphon ist auch eine Brücke

Der Wegweiser gibt zehn Minuten an bis zum Siphon und bescherte Eva Keller vor rund drei Jahren eine Wiederentdeckung. Früher führte dort oft die Familienroute vorbei, damals, als Wandern ein Muss und somit auch der Weg über die Eisentreppen am Siphon nicht positiv besetzt war. Dann gerieten der Weg und auch das Bauwerk bei der Architektin für ein paar Jahrzehnte in Vergessenheit, bevor der gelbe Wanderpfeil die Brücke in Erinnerung brachte. «Siphon» als Wegweiseraufschrift mutet skurril an, verbinden doch die meisten mit diesem Begriff etwas anderes: die einen den U-förmigen Geruchsverschluss unterhalb des Lavabos, die anderen die von Kunststoffgeräten mittlerweile längst verdrängten Glasflaschen mit Metallgeflecht und Kohlendioxidkartuschen fürs Sodawasser. Aber eine übermannshohe Rohrleitung? Mit dem Siphon kommen die mehrheitlich unterirdischen Druckwasserstollen von der Sitter zum Gübsensee an die Oberfläche. Der Gübsensee dient als Tagesspeicher für das Kraftwerk Kubel. Er versorgt das Kraftwerk mit Druckwasser, hat aber keinen natürlichen Zufluss. Über die Druckstollen wird Wasser aus Sitter und Urnäsch zum Stausee geleitet. Der Siphon führt es durch die Senke, über die Urnäsch und wieder bergauf. Das steil abfallende und auf der anderen Seite steil ansteigende Rohr mit der schmalen seitlichen Stahltreppe für die Wandernden sorgt für einiges Erstaunen. Eva Kellers Begeisterung für das gewaltige Industriebauwerk inmitten der Landschaft wird nachvollziehbar und überträgt sich auf alle. Auch Begeisterung ist eine Form von Brückenbaute.

Obacht Kultur, Heft 12