Die Sprache für Unsagbares

by Kristin Schmidt

Entgegen allen Warnungen und Prophezeiungen

Wer fernsieht, kennt ihn: Marco Fritsche, Moderator der erfolgreichen Sendung «Bauer, ledig sucht…», engagiert bei zahlreichen anderen Sendern und Anlässen, mit einer eigen Talk Show auf Tele Ostschweiz, einer, dem die Zuschauer und Zuschauerinnen gern zusehen, den sie gern ansehen. Auch wenn er mit Kurzarmhemd unterwegs ist, wie an diesem Nachmittag in der Lokremise. Grossflächige Tatoos bedecken die braungebrannten, durchtrainierten Arme.

Mit 18 oder 19 Jahren war es für Marco Fritsche klar, dass er ein Tattoo wollte, „aber nur ein grosses“. Es war die Zeit der Tribaltatoos, der keltischen Linienzüge, die sich dezent um den Oberarm oder die Fesseln legten. Es sollte also kein modisches Bildchen sein, aber auch „kein Delphin mit Sonnenuntergang, sondern etwas, das auch mit 50 noch tragbar ist“. Also etwas mit Charakter, etwas mit Aussage. Es dauerte noch mehr als fünf Jahre, bis Marco Fritsche sein Tattoo gefunden hatte, oder vielmehr seinen Tätowierer. Denn in der japanischen Yakuza-Kultur ist es Sitte, sich zeitlebens von einem einzigen Künstler tätowieren zu lassen, und genau diese Yakuza-Tätowierungen hatten es Marco Fritsche angetan. Keine Frage, dass er nach dem Besten suchte und mit Alex Reinke fand. Reinke studierte das Tattoohandwerk, oder in diesem Falle ist es wohl angebrachter von Tätowierkunst zu sprechen, beim weltweit beachteten japanischen Meister Horiyoshi III. Und er brachte Marco Fritsche zunächst einmal in Verlegenheit, da Reinke, genannt Horikitsune, japanische Tattoos nur in unverfälschter, in traditioneller Form auf die Haut bringt. Das heisst: Es gibt keine halben Arme. Verlegen war Marco Fritsche aber nicht, weil es ihn abschreckte, sich statt bis zum Ellbogen den dreiviertel Arm tätowieren zu lassen, sondern, weil er bis dahin von dieser Regel nichts wusste.

Wer sich bei Reinke tätowieren lassen will, bekommt nur Körperbilder, die dem Yakuza-Kodex entsprechen, einem Kodex, der den Markierungen für Kriminelle entstammt und sich in einigen Hundert Jahren als Symbol der Gruppenzugehörigkeit etabliert hatte und nun langsam, aber in der westlichen Welt ganz deutlich neue Anhänger findet. Vielleicht liegt es an der Schönheit der Motive und ganz sicher an ihrer Bedeutung. Zentral sind die Kois, die Karpfen, die für Erfolg, Stärke und Glück stehen und Balance demonstrierend den einen Arm hinauf und den anderen hinunter schwimmen. Bei Frühling- und Sommergeborenen kommen Kirschblüten hinzu, für den Wintergeborenen Marco Fritsche sind es Blätter des japanischen Ahorns, „keine Hanfblätter“ wie er betont, denn genau das hat schon so mancher in den fein gezackten Blättern entdecken wollen.

Jede Wellenlinie, jedes Detail fügt sich bedeutungsvoll ins Gesamtbild. Die Gestaltung überliess Marco Fritsche ganz seinem Tätowierer. Nur ein Detail kommt mit einem Mal etwas unerwartet in den Blick: die schwarze Sonne am linken Arm. So gut sie auch ins japanische Motiv integriert ist, sie mutet nicht japanisch an. Tatsächlich: „Kensington Market mit 23 oder 24“ erklärt Marco Fritsche und es klingt wie die Überschrift einer Geschichte, die ebenso gut „Jugendsünde“ heissen könnte. Eigentlich sollte die Sonne sogar ein Gesicht haben, hat sie aber nicht, denn der (angetrunkene) Londoner Tätowierer hatte sich geweigert: „Don´t do a face into your sun, you will hate it.“ – eine Tätowierregel, die sicher schon so manche davor bewahrt hat, sein Tattoo zu bereuen.

Reue – diese Möglichkeit gehört wohl fest zum Tätowieren mit dazu. Bei Marco Fritsche hiess es damals: „Du als Moderator solltest Dich nicht tätowieren.“ Erst recht nicht bis auf die Unterarme. Aber Marco Fritsche hat sich kompromisslos für die Tätowierung entschieden, auch wenn sie bereits Sponsoren verschreckt hat: „Ich mache, was ich will und trage die Konsequenzen“. Dazu gehört auch, dass Marco Fritsche nochmals unter die Tätowiernadel muss: Zum traditionellen japanischen Tattoo gehört auch der vollständig tätowierte Rücken. Ein zeitaufwändiges Unterfangen, und umso schwieriger zu realisieren, da Reinke inzwischen in London arbeitet. Marco Fritsche sieht es pragmatisch: „Ich weigere mich zu sterben, bevor ich meinen Rücken tätowiert habe. Das ist meine Lebensversicherung.“ Und wenn dann erst eine Schutzgottheit auf dem Rücken prangt, passiert hoffentlich ohnehin nichts mehr.

Über Hoffmanns Herz miteinander verbunden

Regula und Lutz Heyer wohnen in einem kleinen Appenzellerhaus mitten in Trogen. Es ist das Haus, in dem Lutz Heyer aufgewachsen ist. Regula Heyer wohnt nun auch bereits seit 20 Jahren hier – nur 10 km entfernt von Heiden. Es war auf einer Tattoo-Convention in Dornbirn, als Regula und Lutz Heyer erfuhren, dass Herbert Hoffmann in Heiden wohnt und es fast nicht glauben konnten: der weltbekannte Tätowierer nur wenige Ortschaften entfernt. „Wir haben uns kaum getraut, ihn anzusprechen. Aber irgendwie war er ein herziger.“ Einer, der offen war und unkompliziert. Bis zum „Kommt doch mal vorbei“ dauerte es nicht lange und bald besuchte man sich regelmässig und spontan. So stand Herbert Hoffmann auch immer wieder mal unangemeldet vor der Tür bei Heyers, wenn er Gästen ein echtes Appenzeller Haus zeigen wollte.

Aber Herbert Hoffmann um ein Ankertattoo bitten? Lutz Heyer hegte zwar den Riesenwunsch, aber ihn auszusprechen, war eine andere Sache. Als es sich schliesslich doch ergab und Herbert Hoffmann ein Studio nutzen konnte, fasste sich auch Regula Heyer ein Herz. „Was Du auch?“ Herbert Hoffmann staunte und tätowierte auch ihr sein Ankermotiv in die Haut am Nacken.

Der Anker ist nicht das einzige verbindende Körperbild Regula und Lutz Heyers. Mit ihren Tattoos schreiben sie die gemeinsame, die Familiengeschichte mit. Angefangen hatte es mit einem Drachen, den sich Regula Heyer mit 19 stechen liess: „Ich wollte etwas, das nicht jeder hatte.“ Das Motiv fand sie auf einem Buchdeckel. Das Buch ist nicht mehr im Haus, aber auch Lutz Heyer liess sich den Drachen auf dem Oberarm tätowieren. Die Sternzeichen der drei Kinder tragen ebenfalls beide auf ihrer Haut. Für die älteste Tochter ist es ein Löwe. Es war für Regula Heyer nicht einfach, eine gute Vorlage zu finden, einen Löwen, der weder zu aggressiv, noch zu kitschig aussieht, deshalb kam zuerst das Sternzeichen des als zweites geborenen Sohnes dran. Er ist im Tierkreiszeichen des Fisches geboren, aber auch dies war nicht so einfach, denn „damals waren die Kois noch nicht ´in´“ und so vertritt ein Seepferdchen den Fisch. Der Widder für die jüngste Tochter steht bei Regula noch aus. Bei Lutz Heyer prangt er auf dem Rücken und ist Teil einer Motivlandschaft, die sich um den gesamten Körper zieht. Es ist keine homogene, aufeinander abgestimmte Bilderfolge, sondern eine gewachsene und weiterwachsende. Eine, die einen Anfang hat, aber noch lange kein Ende und die, würde sie heute beginnen, vielleicht anders aussehen würde: „Ich hatte nicht von Anfang an gewusst, dass ich mich füllen würde. Wenn ich noch mal anfangen könnte, würde ich anders anfangen. Aber ich stehe zu allem und will nichts überdecken lassen. Jedes Tattoo ist ein Teil von mir.“

Den Anfang machte eine Rose, als Lutz Heyer 18 und es im Kanton Bern noch offiziell verboten war, sich zu tätowieren, und sein Vater, der selbst zur See gefahren war, noch keinerlei Verständnis für Tattoos aufbrachte. Inzwischen ist auch der Vater tätowiert und bei Lutz Heyer ist seither vieles hinzugekommen. Nicht alles bezieht sich auf Lebensabschnitte und die Familie. Besonders ins Auge fallen die Silvesterchläuse: ein grosser Wüeschter auf dem Oberkörper und ein Kranz aus drei Wüeschten und drei Schönen um den Oberarm. Diese Tätowierung ist wahrscheinlich einzigartig, hier treffen sich zwei Kulturen, denn „Leute, die selber chlausen, sind nicht tätowiert.“ vermutet Lutz Heyer. Ihm ist die Verwurzelung in der appenzellischen Kultur wichtig, aber eben auch die Tattoos, die spätestens seit Herbert Hoffmann wiederum auch hier ihre Heimat haben. Das Ankersymbol des legendären Tätowierers taucht bei Lutz Heyer ein zweites Mal auf, in etwas abgewandelter Form: Gegenüber des grossen Wüeschten erhebt ein grimmiger Neptun statt des Dreizacks eine Harpune, die an Hoffmanns Anker erinnert. So erweist Lutz Heyer dem Idol noch einmal die Ehre. Und Regula Heyer? Das Herz mit Kreuz und Flügeln auf dem Oberarm erinnert mit seinem Datum an den Todestag Herbert Hoffmanns und ist nur im weitesten Sinne in memoriam gemeint: Am gleichen Tag hat Regula Heyer Geburtstag.

Ein Tatoo, das zu mir passt

Jubiläen sind ein besonderer Grund zum Feiern. Die zwanzig Jahre bücherladen Appenzell genauso wie der zwanzigste Geburtstag des Sohnes – das eine in diesem Jahr mit einem grossen Kulturprogramm, das andere im vergangenen Jahr mit einem Tattoo: Genau am Geburtstag ihres Sohnes liess sich Carol Forster auf ihren Arm ein feines Linienmuster stechen. Der andere Arm hatte seine immerwährende Zeichnung bereits im Jahr zuvor erhalten. Und auch dafür war der Anlass ein runder Geburtstag, nämlich der eigene. Das Tattoo schenkte sich Carol Forster selbst. Das erste war es nicht. Da sind beispielsweise noch die Eheringe auf der Innenseite des Oberarmes, die sich Forster von ihrem Bräutigam Augustinus „Gass“ Rupp anlässlich der Hochzeit stechen liess, im weissen Brautkleid. Gass stach sich das Pendent selbst. Und dann sind da die Schriftzeichen in den Armbeugen, ein Bekenntnis zu ihrem Sohn und der Liebe. Aber die Tattoos auf beiden Armen sind Forsters sichtbarstes, ihr grösstes, ihr prägnantestes Körperbild. Wobei es Bild in diesem Falle nicht ganz trifft, denn die zarten Linien erinnern viel eher an ein Muster, eine Komposition aus kleinteiligen geometrischen Formen. Sechsecke fügen sich zu einer Wabenstruktur, begleitet von doppeltem Zickzack und Parallelen. Die Ränder bleiben offen, lassen sich gedanklich fortsetzen. Die Zeichnungen auf beiden Armen wirken wie Ausschnitte aus einem grösseren Ganzen und genau genommen sind sie das auch: Die Tattoos entstammen der Tätowierkunst der Kalinga in den entlegenen philippinischen Bergen. Traditionell waren dort Männer und Frauen von Handgelenk bis über die Schultern und die Brust tätowiert. Auch Carol Forster könnte sich das vorstellen: „Vielleicht geht es weiter und wenn ich 70 bin, kommen noch die Hände dazu.“ Doch einstweilen hat sie genau das gefunden, das sie gesucht hat – ein Tattoo, dass zu ihr passt, eines das schmückt, mit dem sie sich jetzt gut fühlt und das auch in den nächsten Lebensjahrzehnten nicht befremden wird: „Ich selbst sehe das Tattoo nicht mehr. Für mich ist es wie eine zweite Haut.“ Das liegt auch daran, dass das Tattoo lebt. Ursprünglich sollte es mit Schablone aufgetragen werden, doch dann entschied sich Carol Forster, das Tattoo von Hand aufzeichnen zu lassen. Die Linien gehen auf den Arm und die Eigenheiten der Haut ein. Jede Wabe ist anders, die Linienabstände variieren leicht. Augenmass entspricht dem Körper eben stärker als gerasterte Symmetrie.

Noch sind Kalinga-Körperzeichnungen hierzulande keine Modeerscheinung, auch wenn Carol Forsters Beispiel durchaus zur Nachahmung reizen könnte. Aber wie kam die Buchhändlerin ausgerechnet auf die Tattoos dieses weit entfernt lebenden Volkes? Auf der Buchmesse! Als sie dort einen Prachtband über Kalinga Tattoos sah, war ihr rasch klar: „Das ist es.“ Carol Forster hatten es besonders die runzligen alten Frauen angetan. Deren schwarze Lineaturen auf den Armen wirken nicht nur selbstverständlich, sondern die Haut der Arme erscheint ungezeichnet von den Lebensjahren. So ist für Carol Forster das Tattoo auch ein Schutz vor dem Alter. Mit dem Tattoo setzt sie dem Altern etwas entgegen, es ist ein Statement und es ist schön: „Ohne viel Aufwand bin ich mit Schmuck behangen.“ Spontan erinnerten Carol Forster die Kalinga-Tattoos an Stickerei, eine Rückmeldung die sie mittlerweile selbst von einer alten Appenzellerin bekam, der Vergleich zur Tracht ist nicht fern. Und auch sonst gibt es Parallelen: Zufällig las Carol Forster von Peter Roths Projekt „Luminawa“ in einem kleinen Zeitungsartikel. Roth entdeckte Verwandtschaften zwischen der Musik im Toggenburg und Appenzell und jener der philippinischen Naturvölker. Den gleichnamigen Film von Thomas Lüchinger hat Carol Forster noch nicht gesehen, ganz bewusst will sie nicht allzu viel von der ursprünglichen Bedeutung der Tattoos der Kalinga erfahren, schliesslich handelt es sich bei diesen philippinischen Ureinwohnern um ehemalige Kopfjäger.

Obacht Kultur No. 13, 2012/2