Donnergrollen auf Papier

by Kristin Schmidt

Die aktuelle Doppelausstellung im Projektraum Nextex zeigt Arbeiten von Julia Steiner und Gaudenz Signorell. Die Werke beider Künstler korrespondieren auf sinnfällige Art und Weise.

Wann ist eine Zeichnung Malerei? Wann ist Malerei Zeichnung? Kann Fotografie Malerei sein? Julia Steiner und Gaudenz Signorell wandern an den Grenzen ihres Mediums entlang. Beide lassen sich durch Kategorisierungen nicht einschränken – im Gegenteil. Sie loten das jeweilige Medium sowohl in stilistischer als auch in technischer Hinsicht aus. Sie arbeiten rein analog, verlassen sich auf das Potenzial ihres eigentlichen Arbeitsmaterials und Werkzeugs. Ausserdem kommen sie mit Schwarz-Weiss-Kontrasten aus, ganz ohne Farbwerte. Fast ganz.

Gaudenz Signorells Fotografien sind Kompositionen starker Hell-Dunkel-Gegensätze. «Nietzsches Wanderstab» etwa scheint als langgestreckte, lichte Form aus dem Schwarz des Formates heraus. Nur an wenigen Stellen tauchen Ockertöne auf. Ist es die Farbe des Holzes? Ist der Stab überhaupt ein hölzerner? Der Bündner Künstler schuf die Aufnahme im Rahmen einer Intervention im Nietzsche-Haus in Sils Maria. Doch ob der Stab tatsächlich einer ist und Nietzsche ihn, falls ersteres zu bejahen wäre, je in seinen Händen hielt, ist eher unwahrscheinlich. Denn Gaudenz Signorell thematisiert nicht die Identität des abgelichteten Motivs, sondern seine unerschöpflichen visuellen und assoziatorischen Möglichkeiten.

Ein Tuscheblatt Victor Hugos bot ihm Anlass zu der Serie «Plui d’orage». Signorell fotografierte jedoch nicht die Gewitterzeichnung des Franzosen und auch kein reales Unwetter. In seinen Bildern ziehen sich helle Spuren durchs körnige Dunkel, es könnten Blitze sein, aber auch Wasserrinnsale an einer Scheibe. Eisberge schwimmen unter bedrohlichen Wolkengebirgen, oder sind es einfach nur Schmutzablagerungen auf einer Metallplatte?

Signorell findet seine Motive dort, wo Menschen arbeiten. Ihn faszinieren die Spuren in Handwerksbetrieben und Fabrikhallen. Hinzu kommt der Reiz, etwas Kleines gross zu sehen. In der Dunkelkammer, im Auge des Betrachters oder spätestens im Hirn verwandelt sich das Vorgefundene in grossartige Landschaften.

Signorells untrügliches Gespür für die weitreichende Kraft eines vordergründig abstrakten Motivs findet sich auch bei Julia Steiner. Blätter wehen umher, Flammen züngeln, Gräser fliegen, doch nichts davon ist manifest. Auf riesigen Blättern – Steiners Zeichnungen sind oft mehrere Quadratmeter gross – konstruiert die Berner Künstlerin Räume aus formal abstrakten Elementen. Aus Linienkombinationen ergeben sich Falten. Auslassungen werden zu Lichtflecken. Tupfen verwirbeln sich, Farbwolken suggerieren Rauchschwaden.

Alles ist in Bewegung, verschiebt sich und verändert sich und wird doch von der unsichtbaren Gravitation gehalten. Der Grund verwandelt sich in Himmel oder kehrt sich in eine Wasserfläche um. Trotz dieser Dynamik und der Detaildichte sieht man den Blättern an, dass sie das Ergebnis eines hochkonzentrierten Arbeitsprozesses sind. Ihnen wohnt eine räumliche Ordnung inne, die nicht nur der Erfahrung der Künstlerin mit ihrem Medium geschuldet ist, sondern ebenso ihrem Blick für das Gefüge des grossen Ganzen.

Und der dritte Grund liegt in der Reduktion der formalen und der technischen Mittel: Steiner arbeitet ausschliesslich mit schwarzer Gouachefarbe auf glattem, weissem Papier. Die Farbe wird nicht mit Wasser verdünnt und behält dadurch ihre Pigmentdichte. So sind Abstufungen von hellem, zerfaserndem Grau bis zu tiefstem Schwarz möglich – und vielfältige, tiefgründige Bildlandschaften. Steiner und Signorell – die junge Künstlerin und der zweiunddreissig Jahre ältere Künstler – haben zuvor noch nie gemeinsam ausgestellt, höchste Zeit also für diese gelungene Doppelpräsentation im Nextex.