Alltag, Anbetung, Anzeigen

by Kristin Schmidt

Marianne Rinderknecht zeigt in der Galerie Paul Hafner Werke aus der Zeit ihres Atelieraufenthaltes 2010 in Varanasi und neu entstandene Werke. Indische Lebensrealität setzt die St. Galler Künstlerin in neue Kontexte.

Die Malerei geht spazieren. Schon längst hatte sie bei Marianne Rinderknecht das traditionelle Tafelbild verlassen, sich auf der Wand ausgebreitet oder ungewohnte Formate besetzt. Nun geht sie noch einen Schritt weiter: Die Malerei selbst begibt sich auf Wanderschaft, mit ihr die Farben, Motive, ja die Leinwand sogar. Die beiden letzteren sind dabei identisch, denn die St. Galler Künstlerin hat zum Messer gegriffen. Sie hat die grundierte Leinwand in runde oder ovale Formen geschnitten und dann bemalt. Kräftiges Rot und Gelb trifft auf Hauttöne, Hellblau auf Altrosa, Giftgrün, Pink und Violett setzen Akzente. Wie Kugelalgen mit Tochterzellen, Planetensysteme oder Mandelbrotmengen kreist die Malerei nun in delikaten Farben über Wand und Boden.

Auffällige, ausgetüftelte Farbspiele sind längst ein Merkmal von Rinderknechts Kunst. Angst vor Farben? Das schien nicht ihr Problem zu sein. Doch selbst Marianne Rinderknecht bemerkte, das Potential noch längst nicht ausgereizt zu haben. Die Augen dafür öffnete ihr der Aufenthalt im Atelier der schweizerischen Städtekonferenz Kultur (SKK) in Varanasi in Indien: „Es gibt dort keine Kombination, die falsch ist. Dort habe ich Farben aufgetankt.“ Und nicht nur das.

Marianne Rinderknecht ist in das vielfältige Geflecht aus uralten Überlieferungen und profanen Bildern, aus Alltag und Anbetung eingetaucht. In den Strassen und Gassen der Millionenstadt sammelte sie mit der Kamera vor allem Ansichten von Wandmalereien. Deren Sujets – hinduistische Götter, Werbung, Verzierungen – und andere Versatzstücke der indischen Lebensrealität hat die Künstlerin in neue Kontexte gesetzt. In der Galerie Paul Hafner treffen in einer Installation aus verschiedenen Formaten und Präsentationsebenen nun beispielsweise Zahnpastareklame, ein von Fliegen umschwirrter brauner Haufen, Ornamente und heilige Tiere aufeinander. Durch die malerische Umsetzung werden die heterogenen Themen zu eben jener Nähe wieder zusammengeführt, die für den hiesigen Betrachter zunächst befremdlich scheinen mag, die aber die Szenerie in Varanasi beherrscht.

Anderes wiederum, das hier selbstverständlich ist, trifft in Indien auf Erstaunen. Malen auf Karton oder Papier etwa. Nicht nur, dass die Materialien schwierig zu beschaffen waren, obendrein wurden sie von einem indischen Kunstprofessor als wertlos bezeichnet. Marianne Rinderknecht reagierte darauf auf ihre Weise: Sie malte kleine Beschützer, sogenannte Babas, auf 102 Zehnrupiescheine. Aus jedem der meist vergilbten, abgegriffenen Scheine blickt nun eine orangefarbene Figur mit Augen und Stirnpunkt heraus. Mal ist sie handteller- mal daumengross, und stets belächelt von Mahatma Gandhi oder rückseitig bewacht von Tiger, Nashorn und Elefant.

Unbefangen hinterfragt Rinderknecht die Vorstellung vom Wert des künstlerischen Materials und nimmt fast nebenbei noch den gesamten Wertschöpfungsprozess in der Kunst aufs Korn.

Sowohl inhaltlich als auch formal hat Marianne Rinderknecht neue Wege eingeschlagen und weit mehr mit nach St. Gallen gebracht als die in Varanasi entstandenen Werke. Insbesondere an den neuen Farbeindrücken arbeitet die Künstlerin weiter. In der aktuellen Ausstellung zeugen davon mehrere Arbeiten: Punkte und Kreise wogen über das Bild und bringen die Augen beinahe zur Verzweiflung. Die Farbe pulsiert, die Kreise schwingen, Nachbilder oszillieren auf der Wand, Scharfstellen ist unmöglich. Bis an die Überreizung des Auges tasten sich Rinderknecht beim Malen und die Betrachter beim Sehen heran. Und was passiert danach? Die Künstlerin wird es ausprobieren und die Betrachter mit ihr.