Arbeitstitel

by Kristin Schmidt

Liegt es am Beton, an den Abdeckplanen, den Armierungseisen, den stählernen Stützstreben? Im Kunstmuseum Winterthur wird ab Ende Oktober die Natur gefeiert. Zwei Jahre lang war das Museum geschlossen, zwei Jahre lang war Kunst nur im Erweiterungsbau zu sehen. Im Hauptgebäude dagegenwurde auf allen Etagen gebaut.

Nun wird es wiedereröffnet mit «Die Natur der Kunst: Begegnungen mit der Natur vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart». Zufall? Wohl eher nicht. Es ist, als habe man nach den zwei Jahren in Staub und Baulärm nicht nur unbändige Sehnsucht nach Kunst, sondern auch ihrem Gegenpol, der Natur – nicht von Menschenhand geschaffen, mal fremd, mal bedrohlich, mal idyllisch, mal mystisch. Die Ausstellung beschränkt sich folglich nicht auf einen dieser Aspekte, sondern versucht nichts weniger als eine Zusammenschau aus anderthalb Jahrhunderten Natur und Landschaft in der Kunst.

Die Gemälde der französischen «paysage intime» bilden den chronologischen Anfang, gefolgt von atmosphärischen Momentaufnahmen des Impressionismus. Aus Frankreich geht es in die Schweiz mit Segantini und Hodler. Es folgen der Expressionismus, der Surrealismus, selbst der Action Painter Jackson Pollock findet mit seinem Ausspruch«I am nature» Platz in der Ausstellung. Die Arte Povera ist mit von der Partie und die Land Art. Roman Signer ist vertreten und natürlich Gerhard Richter. Richter, der grosse Landschaftsmaler der Gegenwart, sucht gleichzeitig Kontrast und Entsprechung: Einerseits wirken die Abstraktion, der Zufall als Pendant zur ungebändigten Kraft der Natur. Andererseits zeigt er Landschaft sowohl als malerisches Naturbild als auch als geografischen, vom Menschen geprägten Raumausschnitt.

Richter hat eigens für diese Ausstellung einen Saal mit erst kürzlich entstandenen Lackgemälden konzipiert. Damit nicht genug. Parallel zur Hauptausstellung ist Richter auch noch eine eigene Präsentation gewidmet, die ebenfalls Natur oder vielmehr Landschaft thematisiert. Während seines Studiums an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste schuf Richter eine Gruppe von 31 Arbeiten auf Papier. Die Blätter entstanden als drucktechnische Experimente und hatten mit der in Dresden unterrichten realistischen Malerei wenig zu tun. Einige sind tiefschwarz, anderen zeigen graue Spuren, Flecken oder Streifen auf dem vergilbten Papier, es sind Abdrücke, Verwischungen, Ätzungen. Manchmal taucht plötzlich eine Horizontale auf und wird zum Horizont. Kommt dann noch ein heller Punkt, eine kreisförmige Auslassung im Schwarz dazu, ist der Mond aufgegangen.

Der Mond über der Landschaft. Richter näherte sich mit dieser Serie spielerisch und beinahe beiläufig der romantischen Malerei, die in seinem späteren Werk ganz bewusst Thema wurde.

Die Nacht war den Romantikern, den Künstlern wie den Schriftstellern, eines der wichtigsten Sujets. Und auch Richter findet Zugang zu nächtlicher Intimität und melancholischem Ausdruck, zu Stille und Schwere. Die unscheinbaren und doch bedeutungsvollen Blätter wurden erst viel später zu Porträts einer Landschaft: Nach der Wende sah Richter den Zyklus wieder, ein Dresdener Freund hatte für ihn aufbewahrt, und er war berührt von der Verwandtschaft zwischen frühen und aktuellen Arbeiten. Aus der Erinnerung an die Jugendjahre in Sachsen erhielt der Zyklus den Titel Elbe.

Zwei Ausstellungen mit vielen grossen Namen – doch das Kunstmuseum Winterthur war immer auch ein Ort für jüngere Künstlergenerationen, war es auch während der Bauzeit und so bleibt es nach der Wiedereröffnung.

Während der temporären Schliessung wurden Georg Aerni und Mario Sala beauftragt, Bilder zu entwickeln, die im Monatsrhythmus auf die Homepage des Museums gestellt wurden. Statt einfach über bauliche Veränderungen zu informieren, wurden letztere künstlerisch begleitet und frei interpretiert. Die Ergebnisse sind nun in einer eigenen Ausstellung zu sehen. Georg Aerni, gebürtiger Winterthurer, ist diplomierter Architekt und arbeitet inzwischen als Fotograf. Seine Aufnahmen zeigen viel mehr als bauliche Situationen. Ob Kabelschlaufen oder Stützenwald, ob Kantenschutz oder Schachtelburg: hier erwacht eine Baustelle zu Leben, hier bekommt sie Charakter, hier werden die Veränderungsprozesse in all ihren Konsequenzen spürbar. Ganz anders geht der Winterthurer Mario Sala mit der Vorgabe um. Seine Zeichnungsserie im Stil von Magazintiteln oder populärwissenschaftlichen Illustrationen verrätseln Bildräume und entführen in poetische Umbauphantasien. So ist beispielsweise zu lesen: «Zeitweise zieht sich die gesamte Belegschaft des Museums in den grossen Warenlift zurück, bis die Sanierung in ruhigere Phasen tritt.» Das derlei nicht nötig war, ist der Belegschaft zu wünschen, und selbst wenn dem so gewesen wäre, es wäre ein nützliches Opfer gewesen. Das Kunstmuseum Winterthur hat nach der Sanierung in vielerlei Hinsicht gewonnen, nicht nur hinter den Kulissen, sondern auch davor: Es ist einmal mehr ein guter Ort für Kunst.