Rheinaus Geheimnisse

by Kristin Schmidt

Im Museum im Lagerhaus sind Pläne von Erfindungen, beschriftetes Besteck, ein Kinderkittelchen aus Matratzenfüllmaterial und viel Rätselhaftes mehr zu sehen. Gezeigt werden – zum ersten Mal öffentlich – Werke aus der Psychiatrischen Pflegeanstalt Rheinau.

«Nachahmung verboten!» Gute Ideen sind wertvoll und Heinrich B. ist sich des Marktwertes seiner Erfindungen sicher. Ob Brückenkonstruktionen, Auto-Postschlitten mit Propeller oder Kompressormotor – alles versieht er mit Patentnummer und der Warnung an potentielle Nachahmer. Doch seine Projekte werden nie über das Planungsstadium hinausreichen. Sie werden bis zur aktuellen Ausstellung «Rosenstrumpf und dornencknie» im Museum im Lagerhaus nicht einmal den Ort ihrer Projektierung verlassen: Heinrich B. war von 1913 bis 1926 Insasse der Pflegeanstalt Rheinau.

Nach Rheinau wurden Menschen eingewiesen, die als unheilbar geisteskrank galten. Ziel der Einweisung war es jedoch nicht, die Menschen zu heilen, zu behandeln und wieder zu entlassen, sondern sie unterzubringen und zu versorgen. So gab es auch keine eigentliche Behandlung. Immerhin wirkten sich der geregelte Alltag und die landwirtschaftliche und handwerkliche Arbeit positiv auf viele der 1200 Patientinnen und Patienten aus. Für einen Menschen wie Heinrich B. war dies jedoch kaum der richtige Ansatz. Selbstbewusst weigerte er sich, ohne Entlohnung zu arbeiten und widmete sich statt dessen seinen Studien. Thematisch ist er mit einem elektrischen Herd oder einer magnetischen Schwebebahn auf der Höhe der Zeit, gleichzeitig verfolgt er visionäre Ansätze wie etwa den eines Ein-Personenluftschiffes. Allen Arbeiten gemeinsam ist die präzise Ausführung: Sie sind akkurat mit Tinte gezeichnet und wirken sehr sicher in der Darstellung technischer Details. Darüber hinaus überzeugen sie in ihrer Anlage, der Reihung und Ordnung der Details.

Die Ausstellung räumt den Arbeiten Heinrich B.’s zu recht einen grossen Platz ein. Dies gilt auch für die kostbaren Stickereien der Johanna Natalie Wintsch. Bereits im Herbst vergangenen Jahres waren ihre sowohl typographisch wie auch formal überzeugenden Tücher in einer Einzelausstellung im Museum im Lagerhaus präsent. Das Wiedersehen macht Freude.

Wintsch ist eine der wenigen, die Rheinau als «sozial geheilt» wieder verlassen konnten. Dass sie sich der Welt ausserhalb der Anstalt bewusst waren, beständig den Kontakt suchten und oft auch die Hoffnung der Rückkehr hegten, zeigen jedoch viele der Kranken. Berührend sind beispielsweise die Lebensbeschreibungen von Anna Z., die unter anderem die entwürdigende Fahrt in die Anstalt beschreibt. Leider können in der Ausstellung und dem begleitenden Katalog nur Bruchstücke aus ihrem lebendigen Bericht wiedergegeben werden. Auch von Lisette H. gibt es nur weniges zu sehen, dieses aber ist umso eindringlicher in seiner Präsenz. Die fünffache Mutter verlor von einem Tag auf den anderen ihre Erinnerung und glitt in eine unvorstellbare Einsamkeit. Und doch scheint etwas in ihren Arbeiten aus dem früheren Leben auf, wenn sie mit nur einem Streichholz aus Matratzenfüllmaterial ein Kinderkittelchen häkelt. Ein Objekt, so irritierend fragil, so zeichenhaft und so ausdrucksstark.

Lange Zeit blieben die Kreationen der Patientinnen und Patienten sowohl der Fachwelt als auch der Öffentlichkeit gänzlich unbekannt. Vieles ist unwiederbringlich verloren. Von Hermann M. wurden 85 Arbeiten aufbewahrt, die zwischen 1925 und 1933 entstanden. Obwohl er auch in den folgenden zehn Jahren ununterbrochen zeichnete wurden nur zwei Blätter aus jener Zeit aufgehoben. Dabei sind seine Werke nicht nur Zeit- und Anstaltszeugnis, sondern höchst verdichtete Poesie und Schriftkunst.

Wort und Ornament sind zu einem stimmigen Ganzen verwoben. Immer wieder tauchen leichtfüssige Reime auf. Besonders beeindruckend sind jene Blätter M.’s in denen er tagebuchartige Notizen zu grafischen Serien ordnet. Sie nehmen in der radikalen Reduktion und der kompromisslosen Wiederholung die seriellen Arrangements Peter Röhrs aus den 1960er Jahren voraus. Jener fügte Sprachbeiträge der Rundfunksender in Tonmontagen aneinander, M. hingegen die Details der Anstaltsroutine. Hier wie dort tauchen Pegelstände auf und Seewassertemperaturen. Hier wie dort bedeutet Redundanz nicht Langeweile, sondern formale Strenge und ästhetisches Konzept.

Letzteres verfolgt auch Adolf W. auf sehr akribische, stringente Weise. Er hinterliess zwei Alben mit Porträts von Bahnpersonal. Und zwar ausnahmslos von Schnauzbartträgern, die in je einem Tondo dargestellt und mit Namen und Berufsstand bezeichnet sind. Alle gleichen einander sehr auffällig und sie tragen flügelartige Schatten über den Schultern. Wie diese Viellinge bleibt auch so manch anderes in der Ausstellung rätselhaft. Hinzu kommt das eindrucksvolle Wechselspiel von solchen Werken, die gänzlich aus der Zeit fallen und allen Kategorisierungsversuchen widerstehen, und solchen, die sich über beinahe hundert Jahre hinweg als aktuell und aussagekräftig erweisen – «Rosenstrumpf und dornencknie» vereint Heterogenes und zeigt Tiefgründiges.