Ungebändigt

by Kristin Schmidt

Christian Ludwig Attersee ist gleich zweimal präsent in Appenzell: im MuseumLiner und in der KunsthalleZiegelhütte. Unter dem Titel «Der Feuchte Brief» feiert man doppelt das Triebleben.

Zigaretten rauchende Brüste, segelnde Tische und einsame Jollen auf hohen Gipfeln, Ziegenköpfe mit Hammerhörnern oder ein Kopfstand auf einer Flasche – in den Bildern von Christian Ludwig Attersee ist alles möglich.

Im Neben-, Mit- und Übereinander alltäglicher Motive ergeben sich unzählige Varianten, die ganz und gar nicht mehr alltäglich sind. Attersee jongliert mit Symbolen und Dingen, aber Beliebigkeit ist ihm fern. Es sind die grossen Themen: Leben und Tod, Schmerz und Freude und immer wieder die Liebe, doch nicht die gebändigte, die institutionalisierte oder gemässigte Liebe, sondern ungezähmte Triebe und Leidenschaften.

Besonders eindringlich zeigt sich dies in der Serie «Spatzenerotik». Hier steckt ein Penis wie ein Fuss in einem Damenschuh oder hängt als Zunge aus einem Mund. Auf anderen Blättern ist es ein Hinsinken, Biegen, Räkeln und Strecken, ein ekstatisches Verrenken der Leiber. Alles ist erlaubt, die Sinnlichkeit grenzenlos. Und immer wieder tauchen Tiere in seltsamen Symbiosen mit den Menschen auf, so finden sich etwa Spatzen- und Raubtierköpfe anstelle von Geschlechtsorganen. Ungezähmte Urkräfte bahnen sich ihren Weg.Christian Ludwig Attersee versucht, stets die Natur und ihre Wahrheiten im Blick zu behalten. Dieses Leben im Hier und Jetzt, die Unmittelbarkeit tierischen Daseins faszinieren ihn genauso wie die jahreszeitlichen Wechsel, das Werden und Vergehen, die Gestirne und die Elemente. Im Einklang mit diesem Interesse an natürlichen Prozessen und dem Leben in seiner ungezwungensten Form steht die Ausdruckskraft des österreichischen Künstlers. Die aktuelle Doppelausstellung der Werke aus den letzten fünfzehn Jahren in Appenzell zeigt, dass die Arbeiten des über sechzigjährigen Attersee von Vitalität strotzen. Er, der zu den «Neuen Wilden» gehörte, ist auch jetzt noch kein Gemässigter. Sein dynamischer Duktus trifft mit fulminanter Farbigkeit auf die Leinwand und manchmal sogar darüber hinaus. Dann wird der Rahmen selbstverständlicher Teil des Bildes. Attersee sprengt die Grenzen. Zugleich oszilliert er zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Auch aus dem dichtesten Knäuel von Pinselstrichen kristallisieren sich noch Motive heraus.

Andernorts agieren Figuren vor Bildflächen, die keinerlei Raum vorgeben, oder kreuzen gewellte Linien den Horizont. Ebenso spannungsreich sind die ad absurdum geführten Grössenverhältnisse. Ein Ziegenbock trägt statt Hörnern riesige Hämmer mit sich herum und Bäume wachsen auf einem Tablett. Übergross schiessen Pfeile empor, tropfen Tränen herab.Bei all dieser Vielfalt der Ausdrucksmittel und Motive ergibt die Ausstellung dennoch ein vollkommen homogenes Gesamtbild. Liegt das an der überraschend dichten Hängung der grossformatigen Gemälde oder ihren ähnlichen Grössenverhältnissen? Das mögen zwei Gründe sein, vor allem aber zeigt die Ausstellung deutlich, dass Attersee in den vergangenen Jahren ein in sich stimmiges und mit grosser Selbstsicherheit vorgetragenes Werk geschaffen hat.Dass er dabei nicht nur Maler ist, sondern auch Poet, zeigen seine Bildtitel. Ähnlich wie in den Motivcollagen funktioniert das Spiel der Möglichkeiten auch verbal: Da gibt es alles, vom Ziersäufer bis zum Schachfleisch, von der Backenreise bis zur Asterzählung, von der kristallenen Ingrid bis zum Nachtgewicht. Also gilt für die Ausstellungsbesucher: Vor lauter Schauen das Lesen nicht vergessen.