Unvergessliche Erinnerung

by Kristin Schmidt

Unter dem Titel «Memorable Memory» zeigt die Kunsthalle St. Gallen eine Auswahl von Werken, die sich der Erinnerung widmen – der persönlichen und der kollektiven, der präzisen und der vagen.

Gibt es Gesetze des Erinnerns? Lässt sich Erinnerung verorten oder katalogisieren? Wie werden Erinnerungen ausgelöst und wie gespeichert? Erinnerung ist ebenso mannigfaltig wie ungreifbar, ebenso unmittelbar wie tief verwurzelt. Mitunter genügt ein Duft, ein Bild, eine Geste, und in Sekundenschnelle taucht längst vergessen Geglaubtes wieder auf, mal konkret und zeitlich fixiert, mal verschleiert, kaum benennbar. So komplex und vielseitig die Vorgänge des Erinnerns sind, so unterschiedlich sind die Methoden der Künstler bei der Visualisierung dieses Phänomens.

Die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle St. Gallen zeigt unter dem Titel «Memorable Memory» vierzehn künstlerische Positionen, die sich mehr oder weniger gezielt der Erinnerung widmen. Und es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Alle ausgestellten Werke stammen aus der Sammlung des Migros Museum in Zürich.Der Bogen reicht von der jüngeren Künstlergeneration wie den Schweizern Urs Fischer, Claudia und Julia Müller, dem Mexikaner Carlos Amorales, dem Schotten Douglas Gordon bis hin zu Kunstgrössen wie Jannis Kounellis, Alighiero Boetti oder Martin Kippenberger. Das Konzept mag zunächst überraschen, hat sich die Kunsthalle St. Gallen doch als Ort für junge, zumeist in Eigenregie produzierte Projekte etabliert. Nun also eine Sammlungsausstellung.Der Rundgang zeigt zum einen, dass die Kunsthalle sehr gut als Raum für eine derartige, eher museal angelegte Präsentation funktioniert, und zum anderen, dass Gianni Jetzer bei der Auswahl der Arbeiten aus seiner intimen Kenntnis der Migros-Sammlung schöpfte – der Kurator arbeitete von 1998 bis 2001 an der Zürcher Institution. Die thematische Ausstellung in der Kunsthalle ist also auch ein persönliches Erinnerungsprojekt.

Auch in sich funktioniert «Memorable Memory» auf zwei Ebenen. Es werden allgemein gültige Aussagen getroffen und zugleich bieten sich individuelle Projektionsflächen. So etwa in der Videoarbeit von Noritoshi Hirakawa, auf die auch der Titel der Ausstellung zurückgeht. Der Künstler stellte verschiedenen Passanten in New York stets die gleichen sachlichen Fragen zum Tod von Prinzessin Diana. Viele erinnern sich kaum an Todeszeitpunkt und -ort, doch viele an den Moment, in dem sie von dem tödlichen Unfall erfuhren. Es verstricken sich vage Vermutungen mit konkreten Erinnerungen an alltägliche Handlungen und öffentliches Wissen mit privaten Reflexionen.Einen ganz anderen und doch ebenso verschiedene Erinnerungsebenen verknüpfenden Ansatz verfolgt die Schottin Christine Borland. Sie lud sechs Akademieprofessoren ein, auf der Basis zweier Fahndungsfotos und der Aussagen von KZ-Häftlingen eine Büste des ehemaligen Konzentrationslagerarztes Joseph Mengele anzufertigen. Im Ergebnis mischen sich psychologisierende Interpretation und der Versuch kriminalistischer Genauigkeit. Jede Büste ist ein gesellschaftliches, moralisches und mediales Konstrukt.

Konkreter an der Vorlage bleibt der Deutsche Olaf Nicolai. In «Dresden 68» verwandelt er die Fassadenstruktur eines Dresdner Kaufhauses aus den 70er-Jahren in einen Leuchtkörper. Eine ursprünglich dreidimensionale Gestaltung, die auf dem kubischen Bau als flächiges Ornament wirkt, wird in einen Körper verwandelt und erst dadurch sichtbar. Der ehemalige architektonische Entwurf sendet ein sanftes Licht in den Raum aus. Was das mit Erinnerung zu tun hat? Dem Kaufhaus droht der Abriss, vielleicht übernimmt «Dresden 68» dereinst den Charakter eines Denkmals – das wäre dann eine Art zukünftige Erinnerung.