Zu Fuss durch Rom

by Kristin Schmidt

Die beiden Künstler Urs Eberle und Andrea Giuseppe Corciulo waren im vergangenen Jahr in der Kulturwohnung des Kantons St. Gallen in Rom. Nun präsentieren sie die Arbeit ihrer Erlebnisse.

Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und nicht nur das, sie führen zu neuen Erkenntnissen, ermöglichen unverhoffte Begegnungen, leiten die Gedanken auf neue Wege. Als Umherschweifen erhoben die Lettristen in den 50er- Jahren des vergangenen Jahrhunderts zielgerichtetes und zufallgelenktes Gehen zur Kunstform. In ihren Spaziergängen durch Paris liessen sie sich treiben und hielten die Ströme, Strudel und impulsiven Richtungswechsel ihrer Bewegungen anschliessend in Karten fest.

Spurensuche ging einher mit Spurensicherung – eine Technik, die der St. Galler Urs Eberle zu neuem, eigenem Leben erweckt: Ein Relief aus Linien breitet sich auf einer riesigen Platte aus. Mal verdichten sich die Bahnen, ballen sich, mal zerfasern sie, laufen weit auseinander. Sie kreuzen sich und entfernen sich wieder. Kaum hat der Blick eine Linie fixiert, fesseln andere seine Aufmerksamkeit, schieben sich daneben und dazwischen. So wie dem Betrachter mit seinen Blicken wird es Eberle mit den Strassen Roms ergangen sein. Denn das Relief visualisiert ein persönliches Bewegungsnetz.

Während seines dreimonatigen Aufenthaltes in Rom in der Kulturwohnung des Kantons St. Gallen durchwanderte der Künstler die Stadt. Er folgte dabei sowohl den Pfaden derer, die sich filmisch oder literarisch, beiläufig oder konzentriert der Stadt und ihren Geschichten gewidmet hatten. Immer wieder überliess er sich aber auch dem Weg, versuchte, sich durch nichts als die Stadt selbst lenken zu lassen. All die intuitiven und geplanten Tagesreisen zu Fuss zeichnete Eberle anschliessend auf. Anders jedoch als Topografen thematisiert er nicht den Ort selbst, seine Objekte und strassenbaulichen Details. Er zeigt den sonst nicht sichtbaren Raum dazwischen – das, was erst mittels Bewegung erlebbar werden kann. Eberle entwickelt ein abstraktes Linienfeld, das durch den Verzicht auf die Darstellung einer konkreten Stadtoberfläche die Dynamik der Stadt und der eigenen Schritte anschaulich werden lässt.

Diese Übersetzung des Erlebten und Erlaufenen ist das Bindeglied zwischen den Werken Eberles und Andrea Giuseppe Corciulos in der Ausstellung im Kulturraum des Regierungsgebäudes. Auch Corciulo hat den Aufenthalt in der Kulturwohnung genutzt, um sich der Stadt zu Fuss zu nähern. Auch er reflektiert in seinen Werken dieses Unterwegssein – doch die Resultate könnten unterschiedlich nicht sein.

Der ebenfalls in St. Gallen lebende Künstler widmet sich in Gemälden denen, die ihm auf seinen Wegen durch den öffentlichen Raum begegneten. Als Fremder in der Stadt waren dies für ihn die Fremden, insbesondere die afrikanischen Migranten. In Selbstbildnissen verbindet er die europäische Lebenswelt mit dem, was für uns wohl am stärksten den Hauch des Exotischen ausstrahlt: mit afrikanisch anmutenden Masken. Entstanden sind kontrastreiche Bilder: Die weisse Haut der nackten Leiber schimmert bunt. Die farbige Blösse wird bedeckt von weissen Kissen, Ballons, kreisrunden oder quadratischen Elementen. Die üppigen Masken stehen im Gegensatz zu dem jeweils schmucklosen hellen Raum und beides wiederum zum Mobiliar. Die Gestalten wirken abgeklärt und doch verletzbar. Auf Widersprüchliches will zudem der Titel der Serie hinweisen: «The nearest faraway place». Selbst die Mischung von Ölmalerei mit Paraffin ist ein Baustein dabei, denn die Textur der Oberfläche deckt sich nicht mit jener, die der Farbauftrag vermuten lassen würde. Andrea Corciulo spürt dem Fremdsein durch Befremdendes nach.

Für Corciulo und für Eberle war der Aufenthalt in der Kulturwohnung Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit Phänomenen des Lebens in der zeitgenössischen Grossstadt, die nicht auf Rom beschränkt sind.