Erinnern und Wahrsagen

by Kristin Schmidt

Rolf Graf befasst sich in seinen jüngsten Arbeiten in der Galerie Kulli mit der Vergangenheit; er richtet den Blick aber ebenso in die Zukunft.

Erinnerungen tauchen plötzlich und unvermittelt auf. Die unterschiedlichsten Sinneseindrücke können der Auslöser sein: Ein bestimmter Duft kann ebenso längst Vergessenes wieder auftauchen lassen wie Bilder oder Melodien. In der aktuellen Ausstellung mit Werken von Rolf Graf in der Galerie Susanna Kulli genügt ein Bildtitel, um die Assoziationskette zu starten: Denn wer erinnert sich nicht an den Western-Klassiker und die Melodie des Goldgräbersongs «My Darling Clementine»?

Die gleichnamige Arbeit des 1969 in Heiden geborenen Künstlers besteht aus beigefarbenen Ornamenten, auf blaue Styrodurplatten aufgetragen. Gleich einem Fries weit über Augenhöhe an die Galeriewand montiert, regt sie nicht nur aufgrund ihres Titels unser Gedächtnis an, sondern auch mit ihrer formalen Gestaltung. Ist es das Dachgesims, unter dem Henry Fonda als Wyatt Earp im Schaukelstuhl sass, oder ein hiesiges Bauernhaus? Sehen wir darin die ertrinkende Clementine des Goldgräberliedes oder, wie es der Künstler vorschlägt, die Horizontlinie der Malerei Cezannes? Rolf Graf lässt dem Betrachter breiten Raum. Da er sich seit langem mit den Mechanismen der Erinnerung auseinander setzt, weiss er um ihre diffuse, schwer zu steuernde Wirkung – und arbeitet genau mit diesen Wahrnehmungsphänomenen. Indem «My Darling Clementine» nur vage formale Andeutungen anbietet, besitzt es das Potenzial, komplexe, vielfältige Gedankengänge auszulösen.

Doch Graf vermag nicht nur Vergangenes heraufzubechwören, sondern richtet den Blick auch in die Zukunft. So bietet die Einladungskarte zur Ausstellung mit dem Bild einer umgestürzten Tasse keinen formalen, sondern einen inhaltlichen Hinweis. Der Kaffeesatz steht hier für eine der bekanntesten Arten der Wahrsagerei. In der Antike übernahm diesen Part die Ornithomantie, die Deutung und Weissagung aus dem Vogelflug. Während seines einjährigen Romstipendiums der Eidgenossenschaft hat sich Rolf Graf vom wissbegierigen Blick in den Himmel inspirieren lassen. Die grossformatige Projektion «Fortune Tellers» zeigt Tausende von Staren über der abendlichen Metropole. Das Bild könnte poetischer und meditativer kaum sein. Wie von unsichtbaren Kraftfeldern beeinflusst, formieren sich die Vögel zu wolkenartigen Gebilden, sie sich in Sekundenschnelle wieder auflösen. Wieder bleibt es dem Betrachter überlassen, aus diesen unsteten Bildern zu lesen. Während die antiken Wahrsager auch den Vogelschrei für ihre Orakel interpretierten, blendet Graf den Ton aus. Damit bekommt die Arbeit eine weitere Dimension. Sie ist nicht mehr nur ein schönes Bild für die Sehnsucht, die Zukunft zu kennen, sondern besitzt zugleich eine starke formale Wirkung. Losgelöst von der städtischen Umgebung werden Stare zu Bildpunkten, deren wechselnde Anordnung immer neue Räume konstruiert.

In dieser Arbeit finden sich damit Grafs grundsätzliche Interessen vereint, denn neben dem ästhetischen Suggestionspotenzial spielen Raum und Architektur die andere wichtige Rolle in seinem Werk. Ihr widmet er «Carpaccio», eine ebenfalls in Rom entstandene, umfangreiche Fotoserie. Die grossformatigen Aufnahmen zeigen Orte, die eigentlich keine sind, fernab des hauptstädtischen Lebens. Ob im Museo Etrusco, in der Cincecittà oder dem Instituto Svizzero – Graf zeigt ein Gespür und eine Beobachtungsgabe für verfremdende bauliche Interventionen, für unbewusste Unterwanderungen des Bestehenden und für banale Versionen von Illusionsarchitektur. Die Stille der Bilder regt unmittelbar dazu an, die Brüche zwischen repräsentativen Bauten und zweckdienlichen Provisorien zu suchen.