Wie viel Nähe ist möglich?

by Kristin Schmidt

Philipp Egli zeigt in der Lokremise sein aktuelles Tanzstück «Ausgang als Ausweg». Nach seinem Weggang als Tanzchef am Theater St. Gallen ist er erstmals wieder mit einer Tanzproduktion hier präsent.

Philipp Egli ist wieder da. Wieder auf der Bühne der St. Galler Lokremise. Im Duo mit der Taiwanerin Kuan-LingTsai zeigt er seine aktuelle Produktion «Ausgang als Ausweg». Das Stück erzählt weniger eine Geschichte, als dass es Zustände, Emotionen und Reaktionen auslotet. Egli untersucht komplexe Beziehungsstrukturen. Solche finden sich in Paargeflechten genauso wie in Teamkonstellationen, sie betreffen Geschlechterstereotypen ebenso wie instinktive Verhaltensmuster. Die Choreographie verwebt all diese Aspekte zu einer stimmigen Gesamtaussage.

Den Beginn macht eine geöffnete und wieder verschlossene Tür. Einer ist entronnen. Wem oder was ist nicht wichtig, viel dringender ist es, zu sich selbst zu kommen. Kaum ist das geschafft, gerät das fragile Gleichgewicht wieder ins Wanken, denn eine Frau taucht auf, will getragen, gehalten, aufgerichtet werden. Damit ist ihr passiver Part dann aber glücklicherweise auch gleich wieder vorüber. Es folgen Phasen in denen beide Philipp Egli und Kuan-LingTsai im völligen Einklang agieren. In anderen wird das eigene Tun, das Entwickeln einer Choreographie reflektiert. In wieder anderen zitieren beide Tanzenden spielerisch und humorvoll den klassischen Pas de Deux. Das alles ist Tanzen als lustvolles Tun – ein Genuss für das Publikum im vollbesetzten Zuschauerraum.

Doch es gibt auch Phasen, in denen der Tanz nicht im Mittelpunkt steht. Da ist zum einen die Musik, die einen ganz entscheidenden und immer wieder auch selbständigen Part übernimmt. Verantwortlich dafür ist das St. Galler Klavierduo Ute Gareis und Klaus Georg Pohl. Die beiden Pianisten spielen auf gewohnt hohem Niveau und sie sind deutlich mehr als die das Stück begleitenden Musiker. Sie begegnen dem Tanz als Mimen, sind Mitstreiter, Gegenspieler oder Gegenpol, sie gestalten Situationen aktiv mit oder verstärken sie, in anderen Passagen übernehmen sie hingegen selbst das Diktat. Mitunter ist ein Musiker einem der beiden Tanzenden zugeordnet, dann wieder verweben sich die Fäden.

Als wäre dieser immer wieder neu ausbalancierte Zweiklang von Tanz und Musik nicht schon anspruchsvoll genug, gibt es als dritte Ebene die Videosequenzen (Ruth Schläpfer). Auf einer sechsteiligen Projektionsfläche sind die eben getanzten Bewegungsphrasen noch einmal in einem herbstlichen Waldstück statt in der Lokremise zu sehen – Natur versus Kultur. Dann Kunst versus Technik: Die Tänzer werden in Live-Einstellungen stark vergrössert und aus der Vogelperspektive gezeigt.

Auch als narrative Spur wird die Videoprojektion eingesetzt, wobei die entworfenen Bilder mitunter etwas überladen daherkommen und der Kraft der tänzerischen Abstraktion entgegenwirken.

Im vielfältigen Spiel aus überblendeten, synchron laufenden oder sich ergänzenden Spuren sind Konstanten wichtig. Eine ist selbstredend das hohe tänzerische und musikalische Niveau der vier Akteure, eine andere sind inhaltlich motivierte Schlüsselszenen. Im Zentrum steht die Frage der Annäherung: Wie viel Nähe ist möglich? Wie viel Nähe ist nötig? Wohin führt Nähe? Egli findet dafür einen ebenso schönen wie aussagekräftigen Ausdruck, indem er die Redewendung «auf jemanden stehen» wörtlich umsetzt. Sie steht nicht nur auf ihn, sie steht auf ihm, er steht zu ihr, steht ihr bei. Dann verlieren sie sich wieder, um sich erneut zu finden. Dies hat eine starke zeitliche Komponente, die Egli durch sehr persönliche Rückblicke akzentuiert: er erzählt, erzittert, frohlockt, verführt – er tanzt bis die Bilder auf der Projektionswand zum weissen Rauschen verblassen. Die körperliche und spielerische Präsenz der Tänzer und Musiker hingegen wird noch nachwirken.