Mann und Maus im Strudel

by Kristin Schmidt

Das ganze Spektrum der Art brut: Die neue Ausstellung im Museum im Lagerhaus zeigt Arbeiten von rund dreissig Künstlern aus der Sammlung von Geneviève Roulin.

Geneviève Roulin näherte sich der Kunst von zwei sehr unterschiedlichen Seiten. Zum einen besass sie als Kuratorin und stellvertretende Direktorin der Collection de l’Art brut Lausanne einen wissenschaftlich fundierten und institutionalisierten Zugang zur Kunst der Aussenseiter. Auf der anderen Seite war die 2001 im Alter von knapp 54 Jahren Verstorbene selbst leidenschaftliche Kunstsammlerin.

Sie verliess sich dabei ganz auf ihr Gefühl; unbefangen kaufte sie, was ihr gefiel, ohne sich um Kategorisierungen oder Katalogisierungen zu kümmern. Oft entwickelten sich aus ihren beruflichen Kontakten mit Künstlern langjährige Freundschaften, die in grossen Werkgruppen in ihrer privaten Sammlung resultierten.

So zeigt das Museum im Lagerhaus gleich zwölf Arbeiten Edmond Engels. Der Künstler übersetzt alltägliche Szenen in ein Liniengespinst, das in einen wilden Strudel verwandelt schon mal Mann und Maus mit sich reissen kann. Weisse Linien über einem erdigen Hintergrund definieren Figuren, die sich zaghaft aufeinander und auf Architektur beziehen. Einen anderen Aspekt aus dem Schaffen des gebürtigen Franzosen mit Wohnsitz am Genfersee zeigen seine Silhouettenbilder, beispielsweise die Katze, in deren Bauch sich zwei aufgeweckte Mäuslein tummeln. Gemälde werden hier zu Skulptur und umgekehrt. Engel macht aus zwei Gattungen eine, und doch behält jede die ihr eigene Aussagekraft. Nur schwer lässt sich ein grösserer Kontrast vorstellen als zwischen diesen Bildern und den Grafiken Rosemarie Koczys, deren Werk das Lagerhaus bereits früher vorgestellt hat. Während Engels Gemälde von versponnenen Traumwesen bevölkert werden, blicken uns bei Koczy Gestalten mit riesigen schwarzen Augen traurig an. Sie scheinen allen Schmerz der Welt erfahren zu haben. Nicht anders als die 1939 geborene Künstlerin selber: Koczy verbrachte ihre frühesten Lebensjahre in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten und zeichnet nun gegen das Vergessen an. So unterschiedlich die Werke, so deutlich der rote Faden in Roulins Sammlung: Viele Bilder werden von gross ins Format gesetzten Menschen, Tieren oder Fabelwesen bevölkert. Da sind die archaischen Gestalten bei Michael Nedjar, die vieläugigen Menschen in militärischer Strenge von Ignacio Carles-Tolrà oder der von brustwarzenähnlichen Gebilden umschwirrte Frauenakt Anne Loutrels. Einen anderen Schwerpunkt bilden die zu ornamenthafter Dichte addierten Figuren. Marco Raugei strickt grafische Teppiche aus Katzen und Mäusen, François Burland kombiniert Versatzstücke unterschiedlicher Epochen und Kulturen in ekstatischem Getümmel, dem er mit einem dynamischen Liniennetz Halt gibt, und Christine Sefolosha verbindet Mensch und Tier zu einem flammenden Dschungel aus Leibern. Die Negativform des einen wird zur Positivform des anderen. Während hier das Einzelne nur in der Gesamtheit existiert, gelingt es mit der Präsentation der Sammlung Roulin, die unterschiedlichen Positionen so zu verbinden, dass die individuellen Aussagen ihre Gültigkeit bewahren.

Bereichert wird die sorgfältig zusammengestellte Schau durch einen Ausschnitt aus Curt Burgauers Arsenalen. Der Tod des Kunstförderers und Mitbegründers des Museums im Lagerhaus liess die Präsentation nun zu einer kleinen, aber ausdrucksstarken Gedächtnisausstellung werden mit Werken von Hans Krüsi, Niklaus Wenk und anderen.