Zerebrale Kunst

by Kristin Schmidt

Frankfurt am Main — Zwei Stunden, mindestens! So lautete die Empfehlung für einen Besuch der Duchamp-Ausstellung im Frankfurter MMK und zwei Stunden sind gut investiert in eine einerseits umfangreiche, andererseits lustvoll inszenierte Ausstellung. Sie zeigt den ganzen Duchamp, die frühen Gemälde eines nicht unbegabten Teenagers, die Zeitungskarikaturen, Briefe, Porträtfotos und selbstverständlich Arbeiten aus allen Phasen von 1902 bis 1968. Nichts fehlt, selbst Werke, die nicht reisefähig sind, sind durch Vor- und Detailstudien, Versionen oder Remakes vertreten.
Klassiker wie «Fountain», Flaschentrockner und Fahrradrad gehören unbedingt in eine solche Ausstellung und markieren in Frankfurt am Main den Auftakt. Sie werden teilweise hoch in den Raum gehängt und mit auf die Wand gemalten, hellgrauen Schattenrissen inszeniert: Duchamps Werk verträgt diesen fröhlichen, unbefangenen Blick gut. Zudem sind diese Readymades in der Folge auch in anderen räumlichen und chronologischen Kontexten zu sehen. Die gesamte Präsentation folgt nicht einer stringenten Zeitspur, sondern erlaubt sich Seitenblicke, Parallelen und Schwerpunkte. Dafür wird der eigenwillige postmoderne Hollein-Bau aufs Beste genutzt: Spitzwinklige Säle, kleine Kabinette, grosse und kleine Treppenaufgänge und Zwischenebenen, Durchgänge und Erker liefern eine Raumvielfalt, in der sich Duchamps reiches Werk schlüssig präsentiert. Die Eingangstür für André Bretons Galerie «Gradiva» beispielsweise ist so logisch eingebaut als wäre sie nie woanders gewesen. Die Rotoreliefs drehen sich in einem verdunkelten Raum mit passender Geometrie. Ein kleineres Kabinett liefert den intimen Rahmen für fotografische Aufnahmen des Künstlers über sein ganzes Leben hin. Sowohl Themen wie Schach, Gender, Geschlecht und Zufall erhalten eigene Ausstellungsbereiche als auch wichtige Werke wie «Boîte-en-Valise» oder «Le Grand Verre», das nach jahrelanger Arbeit 1923 «permanently unfinished» blieb. Zu sehen ist die 1965 von Richard Hamilton erstellte und von Duchamp autorisierte Replik, umgeben von Studien, Skizzen, fotografischem und schriftlichem Material. «Le Grand Verre» ist wohl eines der meistinterpretierten Werke des 20. Jahrhunderts, stellt aber andere von der bärtigen Mona Lisa, bis zur Erfindung des weiblichen Alter Ego Rrose Sélavy nicht in den Schatten. In allem zeigt sich, wie kraftvoll, frisch und relevant Marcel Duchamps Kunst bis heute ist.