Ari Marcopoulos — Die Politik des Bildes. Der Künstler thematisiert gesellschaftliche Phänomene und bewahrt sich dabei einen poetischen Blick.

by Kristin Schmidt

Ari Marcopoulos fotografiert seit vier Jahrzehnten. Er fotografiert die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld oder aus der Skateboard-, der Kunst- und der Musikszene. Er porträtiert
Bäume ebenso wie Graffiti oder hält Schlagzeilen und Stadtsituationen fest. Sein Werk umfasst aber längst mehr als Fotografien. In der bisher umfassendsten Einzelausstellung des Künstlers zeigt die Kunst Halle Sankt Gallen weitere Facetten von Marcopoulos´ Arbeit.

Ein Fries aus Fotografien. Unprätentiös auf die Wand tapeziert, eines neben dem anderen. Ein Baum. Zwei Frauen in einer geöffneten Tür. Ein Passant. Eine Schar Kinder. Wieder ein Baum, diesmal schneebedeckt. Zwei Männer hinter einem Zaun. Jedes Bild ist wichtig. Jedem Bild folgt ein nächstes. Jugendliche. Der Innenraum einer Apotheke. Ein geöffneter Kamerakoffer. Bilder bei Tag, Bilder bei Nacht. Komponierte Schwarzweissaufnahmen. Farbige Schnappschüsse.
Ari Marcopoulos zeigt in der Kunst Halle Sankt Gallen 91 Fotografien und inszeniert sie als einen horizontal durch den Raum fliessenden Bilderstrom. Manche Bilder zeugen mit ihren Motiven von der Pandemiezeit, andere tragen diesen Verweis nur in der automatischen Datumsanzeige der Kamera. Wieder andere wurden deutlich früher aufgenommen. Die Ausstellung ist während der Pandemie entstanden. Sie verhüllt dies nicht, beschränkt sich aber nicht auf die vergangenen zwei Jahre, so Ari Marcopoulos: «Wenn ich in einer Schachtel oder im Ordnersystem des Computers nach bestimmten Bildern suche, finde ich andere.» Die automatische Datumsanzeige auf vielen Fotografien ist für Marcopoulos ein wichtiges Element, das zu einer anderen Datensammlungen in Beziehung steht: «Ich schätze On Kawaras Arbeit sehr. Oder auch jene von Stanley Brown, der Wegbeschreibungen sammelte. Es geht um das Aufzeichnen von Zeit und Bewegung.»

Begegnungen und Bücher

Die beiden vergangenen Jahre der Pandemie gehörten auch der Black Lives Matter Bewegung und zu einem Teil der Regierungszeit Donald Trumps. Sie gehörten der künstlerischen Arbeit und dem alltäglichen Tun, waren die Zeit der Stille einerseits und die Zeit politischen Engagements andererseits. Marcopoulos hängt seine Bilder dieser Zeit in der Ausstellung hierarchiefrei aneinander. Die Bildfolge ist narrativ, aber nicht linear erzählerisch. So lassen sich beispielsweise verwandte Motive entdecken, wenn eine alte Frau mit der Hand ihre Zähne fasst, ein Mann zähnefletschend grinst und auf der nächsten Fotografie eine Comicfigur ihr Gebiss bleckt. Aber diese Nachbarschaften bleiben beiläufig und offen. Ari Marcopoulos glaubt an die Betrachtenden als Interpreten und Interpretinnen der Arbeit: «Das Werk ist erst vollendet, wenn sie anwesend sind, ihre eigenen Gedanken entwickeln und spüren, was die Arbeit meint. Dank meiner Bilder kann an unbewusst vorhandene Dinge angeknüpft werden.» Getragen ist die Arbeit von seinem Interesse für die Menschen: «Ich erlebe sehr berührende Begegnungen mit Menschen aus meinem Quartier, mit dem Postboten oder beispielsweise im Friseursalon. Ich fotografiere sie und habe aus den Fotografien ein Buch gemacht mit 825 Seiten. Allen im Friseursalon habe ich ein Exemplar gegeben. Das sind Gelegenheiten, um mit den Menschen ins Gespräch zu kommen.»
Der Künstler ist bekannt für seine Bücher und Zines, die er seit vielen Jahren herausgibt. Eine Konkurrenz zwischen den Büchern und den Ausstellungen entsteht dabei nicht: «Eine Ausstellung ist kein Buch. Ein Buch ist keine Ausstellung. Bücher existieren, Ausstellungen kommen und gehen. Ausstellungen können mehrere Dinge gleichzeitig behandeln. Ein Buch kannst du in die Hand nehmen und durchblättern, aber die Bilder verschwinden, wenn die nächste Seite aufgeschlagen wird. In einer Ausstellung bist du umgeben von Bildern. Wichtig ist: Ich mache immer eine Publikation oder ein handgefertigtes Zine.» Marcopoulos setzt bei diesen Heften und bei seinen Büchern auf einfache und klare Gestaltung und bezieht sich auf eine Katalogtradition: «Einige meiner Lieblingskataloge stammen aus den späten 1960ern und frühen 1970ern. Damals hatten die Bücher oft einfache Softcover. Sol Lewitt, Robert Morris – zu solchen Künstlern gab es einfache, dokumentierende Kataloge. Sie waren dazu da, zu zeigen, was gewesen ist.»

Turner, Kienholz und Michelangelo

Referenzen an andere Künstler gibt es in Ari Marcopoulos´ Werk in vielerlei Hinsicht. Unter den 91 Fotografien ist ein abgelichteter Zeitungsartikel über William Turner, eine Fotografie von Büchern über Gericaults ‹Méduse› und Kienholz´ ‹Five Car Stud› oder ein Band über Michelangelo, der von den Händen einer schwarzen Person gehalten wird. Hinweise auf gesellschaftlich relevante Themen liegen auch in diesen Fotografien: «In diesem Nebeneinander liegt die Bedeutung. Bei Gericault ist ein Schwarzer Mann zuoberst auf dem Floss zu sehen. In dem Artikel über William Turner ist sein Gemälde von Napoleon im Exil zu sehen. Einerseits lässt sich dessen Einsamkeit als Anspielung auf die Situation während der Pandemie lesen. Andererseits berichtet der Artikel darüber, wie Turner mit dem Kunstmarkt spielte. Das wiederum führt zum kapitalistischen New York.»
Besonders verbunden waren Ari Marcopoulos und seine Partnerin Kara Walker mit Robert Frank und dessen Frau June Leaf: «Ich bin beeinflusst durch ihn und hatte das Privileg, in seinen letzten Lebensjahren viel Zeit mit ihm verbringen zu können.» In der Kunst Halle Sankt Gallen zeugt das Video ‹Nova Scotia›, 2022 von dieser Freundschaft. Es ist weniger die Dokumentation eines Besuches als ein gemeinsames Eintauchen in Erinnerungen und Gedanken. Ein Gespräch dreht sich mit langen Pausen über Sprache, Herkunft und Wohnort. Der in der Schweiz geborene Frank berichtet über seine Zeit in Paris und betont, wie gern er Menschen traf. Auch diese den Menschen zugewandte Art verbindet die beiden Fotografen. So berichtet Marcopoulos wie er Zugang zu verschiedenen Szenen fand: «Mit welcher Gruppe auch immer ich gearbeitet habe, ich war sehr interessiert an den Menschen. Dieses generelle Interesse ist ebenso entscheidend wie Offenheit. Zudem war irgendwann der Punkt erreicht, dass viele Menschen meine Arbeit kannten. Ich bringe die Bilder unter die Leute, als Zine oder auf andere Weise. Ich habe beispielsweise 300 Fotografien an den Zaun des Basketballplatzes in meinem Quartier gehängt.»

Störmomente

Marcopoulos porträtiert nicht nur Menschen, auch Bäume finden sich häufig unter den Bildern. Oder Graffiti: «Ich nehme die Kamera zur Hand, wenn mich etwas besonders anzieht, etwa eine Form, eine Gestalt oder ein Ausdruck. Selbst wenn ich Graffiti fotografiere, entstehen Porträts. Ich suche nicht nach grossartigen oder besonders virtuosen Graffiti. Interessiert bin ich am Graffiti als Gegenpool zur Reklame. Die Gesellschaft missbilligt Graffiti. Werbung hingegen wird nicht in Frage gestellt, sie scheint nicht zu stören. Graffiti ist ein Antidot zur Reklame.»
Marcopoulos selbst inszeniert in seiner Ausstellung Störmomente: Auf neun kleinen Monitoren – mit bewusster Nonchalance auf dem Boden platziert – tönen Sound- und Videoexperimente weit in den Raum hinein. Sie entstanden während des pandemiebedingt erzwungenen Rückzugs und verbinden sich mit dem bedrohlichen Klang der New Yorker Polizeihelikopter über den Black Live Matters-Protesten. Auch im Video «Alone Together with Joe McPhee» verbindet Marcopoulos sein Interesse an der Musik mit den gesellschaftlichen Zuständen in den Vereinigten Staaten: Der Jazzmusiker McPhee improvisiert auf einem Plastiksaxophon und rezitiert ein eigenes Gedicht mit grosser emotionaler und politischer Dringlichkeit. Marcopoulos führt damit im letzten Ausstellungsraum schlüssig zusammen, was ihn künstlerisch beschäftigt und ihn längst über die Fotografie hinaus geführt hat, ohne dass er sie hinter sich lassen musste.

→ ‹Upstream›, Ari Marcopoulos, Kunst Halle Sankt Gallen, bis 7.8. ↗ www.k9000.ch

Ari Marcopoulos (*1957 in Amsterdam) lebt in Brooklyn

Einzelausstellungen (Auswahl)
2021 Archive/Project Space, Pittsfield
2020 galerie frank elbaz, Paris
2019 Art Basel Unlimited
2019 Fergus McCaffrey, New York
2015 Marlborough Chelsea, New York
2012 V1 Gallery, Kopenhagen
2010 Foam_Fotografiemuseum Amsterdam
2009 Berkeley Art Museum, Berkeley

Gruppenausstellungen (Auswahl)
2021 LAXART, Los Angeles
2020 Hugh Lane Gallery, Dublin
2019 University of New York at Albany, New York
2019 Pratt Institute, New York
2018 Fotomuseum Winterthur
2016 Camden Arts Centre, London
2015 Fondazione Giuliani, Rom
2010 Whitney Biennal, Whitney Museum of American Art, New York
2006 Kunsthaus Zürich