Kunst als vierte Dimension

by Kristin Schmidt

Kleine Landschaften und grosse Klänge, die Welt in einer Glaskugel oder einer Schlagzeile – «Dimensional. Drinnen und draussen» zeigt Transformationen gewohnter Kategorien, begibt sich in Zwischenzonen und eröffnet neue Sichtweisen auf bekannte Dinge vom Stein bis zum Stuhl.

Die Welt steht Kopf. Verkehrtherum glitzern die Wellen in der Sonne. Ihnen schliesst sich der Hügelzug des anderen Seeufers an. Er steht Kopf und unter ihm prangt der Himmel, blau wie der See. Joëlle Allet hat drei Glaskugeln am Steckborner Deucherquai platziert. Jede der Kugeln birgt in sich die ganze Welt: Wo auch immer die drei platziert sind, durch sie hindurch ist die gesamte Umgebung zu sehen, auf dem Kopf stehend und gewölbt durch das Glas hindurch. In diesem massiven Glas sind kleine Luftbläschen eingeschlossen und feine Adern. Die Kugeln zeigen damit nicht nur die Umgebung, sondern auch ihren eigenen gläsernen Kern. Mit diesem Zusammenklang von Innen und Aussen, von grosser Welt in kleiner Kugel ist «Triplés», 2017 der gelungene Auftakt für «Dimensional. Drinnen – draussen», die Sommerausstellung 2022 im Haus zur Glocke in Steckborn.
Ebenfalls auf dem Quai, nur wenige Meter entfernt, steht «Stummer Stein», 2018 von Arthur Schneiter. Der Monolith steht in grossem Kontrast zu «Triplés»: Statt durchsichtig ist er schwarz. Statt schwebend auf Augenhöhe montiert zu sein, ruht er fest auf einem eigens bearbeiteten Sandsteinsockel. Statt einer geschlossenen geometrischen Form ist er vielgestaltig mit unterschiedlich bearbeiteter Oberfläche. Glatte Flächen stehen eingearbeiteten Rastern gegenüber, polierte Flächen kontrastieren mit rauer Haptik. Mit all ihren Unterschieden in Konzeption und Form stehen dennoch beide Kunstwerke für das Ausstellungsmotto ein und bilden eine Klammer zwischen Steckborner Unterseeufer draussen und dem Kunstraum drinnen.
Vier künstlerische Positionen sind für «Dimensional. Drinnen – draussen» miteinander verbunden und richten den Blick in Innen- und Materialwelten, auf die Aussenhaut und Oberflächen, aber auch in Strukturen, Räume und Konstruktionen. Schlüssig an der Verbindungsstelle zwischen Innen und Aussen platziert Fredy Schweizer sein Wellenkissen: «untersee 2», 2022. Auf der breiten Fensterbank liegend spiegelt es die Umgebung vor dem Haus und im Raum. Die Form des Steines verweist ebenfalls auf draussen, lassen sich doch die gleichmässig angeordneten, sanft gerundeten Erhebungen und Vertiefungen als Wellenberge und -täler lesen. In ihnen reflektiert sich das Licht und wird in das Gebäude hinein geführt. Dort trifft es auf zwei Marmorskulpturen, ebenfalls von Fredy Schweizer: «wiegend zu land und zu wasser», 2021/22 schwingt an einer Seite kühn in den Raum hinaus, bildet dann Kreten, die auf der anderen Seite in Kurven ausfliessen. «wahrnehmend», 2021/22 reckt eine forsche Spitze in den Raum, ausgehend von einer grossen Rundung. Diese Leserichtungen sind nicht vorgegeben, Fredy Schweizers Bildhauerarbeiten lassen sich von allen Seiten betrachten. Angeregt ist ihre Gestalt einerseits durch die sorgfältig herausgearbeitete Maserung des Steines und und andererseits durch die Landschaft.
Jeder Mensch trägt die Erfahrung von Landschaft in sich, kann Hügel, Ebenen, Berge vor dem inneren Auge abrufen. Diese Erfahrungen sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit Fredy Schweizers. Ihn prägt insbesondere die Landschaft des Seerückens mit der grossen Wasserfläche des Untersees. «untersee 1», 2022 thematisiert deren Wellenstruktur. Zugleich lenkt Schweizer die Aufmerksamkeit auf den Stein selbst. Wie bei den polierten Marmorskulpturen zeigt sich auch hier das Innere des Steines an seiner Oberfläche. In diesem Falle ist es Kalkstein mit zahlreichen kleinen Einschlüssen, die von der langen Geschichte des Steines erzählen. Der Blick schwingt von den Details aus dem Innenleben des Steines an die seidig matte Oberflächenhaut und zurück. Und er schwingt von hier aus weiter zu «togo», 2012 von Patrick Steffen, denn der Oberflächenglanz beider Arbeiten führt einen lebhaften Dialog. Steffen hat Papier so lange beidseitig mit Graphit bearbeitet, bis es einen sanft metallischen Glanz angenommen hat. Zudem wellen sich die drei übereinander gehängten Blätter leicht und führen damit in der Vertikale weiter, was «untersee 1» in der Horizontalen anklingen lässt. Zugleich korrespondiert «togo» mit Arthur Schneiters Graphitzeichnung «Zwei Steine» zwei Stockwerke weiter oben, die ebenso dicht und ebenso materialgetrieben ist. Im Gegensatz zu den Papierarbeiten Patrick Steffens ist sie jedoch motivisch angelegt und verweist mit der Darstellung zweier Steine auf die bildhauerischen Werke Schneiters. Der Künstler platziert Klangsteine im Haus zur Glocke. Sie sind als Rohmaterial präsent, sind als «Kleines Steinspiel», 1989 angelegt, laden mit «Ohr am Stein», 2022 vom Äusseren des Steines aus ein, in sein Inneres hineinzuhören, und sind als kleiner Steinhaufen auf einer Serpentinplatte platziert. In ihrer gerasterten Oberflächenbearbeitung erinnert die Platte an den «Stummen Stein» auf dem Deucherquai und fügt sich somit in das Spiel zwischen drinnen und draussen ein.
Arthur Schneiter bearbeitet Steine so, dass sie zum Klingen gebracht werden können. Die Klanggitter im Inneren der Steine tönen nach draussen und nehmen damit ein Volumen weit über das eigentliche Material des Steines hinaus ein. Welche klangliche Qualität und Vielfalt in den Steinen ruht, verdeutlicht mit Patrick Steffens «fade», 2021. Das Video ist nur wenige Schritte entfernt zu sehen und zu hören. Der Sound stammt vom Klangkünstler Fritz Hauser und wurde unter anderem auf Klangsteinen von Arthur Schneiter erzeugt. Gefilmt wurde «fade» von den Gleisen einer stillgelegten Bahnstrecke aus. In homogener Bewegung geht die Fahrt vorbei an einer Landschaft in der Dämmerung; mit immer gleicher Blende, immer gleichem Tempo, immer gleichem Blickwinkel. Langsam stellt sich die Dunkelheit ein und eine grosse Ruhe liegt über der profanen Gegend mit ihren Fabrikhallen, Fahrstrassen, Feldern. Den Kontrast zum gleichförmigen Tempo und der visuellen Stille dieser Arbeit bildet Steffens Anagrammpoesie. Seit vielen Jahren sammelt der Künstler prägnante Botschaften im öffentlichen Raum. Die Schlagzeilen, Parolen oder Graffiti verwandelt er per Anagramm in poetische Wortmeldungen. Diese sind in Steckborn in Form einer Zeitung, als Bildtafeln im Haus zur Glocke und als Plakate am Bahnhofskiosk zu sehen und zu lesen. Das Drinnen und Draussen verschränken sich hier physisch durch den Ort der Präsentation. Zusätzlich werden die aggressiven und plakativen Sätze und Parolen, die ganz auf Aussenwirkung ausgerichtet sind, nach innen geholt, in den Bereich der Poesie, der Reflexion, des Innehaltens. Noch immer ziehen sie in der typischen Blockschrift der Boulevardzeitungen die Aufmerksamkeit an, um aber das geweckte Interesse mit surrealen, humorvollen Sätzen zu belohnen. Aus der bereits rätselhaften Schlagzeile «Für Aliens gibts kein Verstecken mehr» werden Sätze wie «Fakten verbiegen? Kirschen mit Rüssel!» heisst es da, oder «Frisch verliebt? Tanke Genüsse im Kern!». Dieses Verschieben der Realität, die Transformation des Alltags verbindet Patrick Steffens Anagramme mit Joëlle Allets Werk. Wie die Kugeln am Steckborner Deucherquai, sorgen auch ihre Arbeiten im Dachgeschoss des Hauses zur Glocke für eine neue Sicht auf die Dinge.
Die «Trois Chaises», 2014 mit ihren unterschiedlichen langen Beinen werden durch den schiefen Dielenboden in ihrer Wirkung noch verstärkt. Hier ist die Welt aus ihrer rechtwinkligen Ordnung geraten. Die Tongefässe auf dem Holztisch sind ebenso fragil wie trotzig mit ihren krummen, bauchigen Formen und ihrer kleinen Standfläche. Mit «Lappalie», 2022 schliesslich unterwandert die Künstlerin die Kategorien von oben und unten, drinnen und draussen. Zwei Dutzend Vasen, Dekantierer, Schalen, Karaffen und Flaschen aus transparentem Glas liegen oder stehen auf dem Boden. Ihre Öffnungen sind verdeckt oder nach unten gekehrt, ihr Inneres ist von aussen her zu sehen, aber nicht mehr zu greifen. Die Übergänge vom einen Gefäss zum anderen sind nicht mehr klar, denn manche bilden ein Duo und einige sind mit Mut und Witz zu einem Turm gestapelt. Kippt er oder kippt er nicht? Wird er einem Beben, ausgelöst durch einen schweren Schritt auf dem alten Holzboden standhalten? Die Antworten bleiben bewusst offen und Joëlle Allets Arbeit liefert einen schlüssigen Kommentar zum Ausstellungsmotto: Ob drinnen oder draussen, ob klein oder gross – keine Kunst ohne Wagnis, keine Kunst ohne Idee und Experiment.

Ausstellungsbroschüre zu «Dimensional. Drinnen – Draussen», Haus zur Glocke, Steckborn