Mit Mut und Rasierapparat

by Kristin Schmidt

Manon zieht mit 15 Jahren nach St.Gallen, um die Kunstgewerbeschule zu besuchen. Damit war der erste Schritt in Richtung einer langen künstlerischen Laufbahn getan. Die 1940 in Bern geborene Künstlerin gehörte bereits in den 1970er Jahren zu den wichtigen Figuren im Kunstbetrieb und ist es dank ihrer Themen immer geblieben.

«Beim nächsten Ton ist es fünfzehn Uhr, einundvierzig Minuten und zwanzig Sekunden.» Die Frauenstimme hallt durch den Ausstellungsraum. Alle paar Sekunden erinnert sie an die Vergänglichkeit. Sekunde für Sekunde, Minute für Minute, Stunde für Stunde, Jahr für Jahr. Achtzig ist die Künstlerin Manon vor zwei Jahren geworden. Zeit also für eine gross angelegte, dreiteilige Schau über ein international wichtiges Werk, dessen Aktualität und Bedeutung heute wieder neu zutage tritt. Das Kunsthaus Zofingen, das Centre culturel suisse in Paris konnten ihren Ausstellungsteil noch vor der Pandemie und im vergangenen Jahr zeigen, die Fotostiftung Winterthur holt dies jetzt nach. Sie legt den Schwerpunkt auf Manons fotografisches Werk als bedeutende Position der Schweizer Fotogeschichte. Das ist schlüssig, wenngleich die Ausstellungsfläche der Fotostiftung eine Konzentration auf eine überschaubare Zahl von Werken bedingt, die obendrein räumlich dicht gehängt werden.
«Beim nächsten Ton ist es fünfzehn Uhr, siebenundvierzig Minuten und zwanzig Sekunden.» Der alte Wählscheibenapparat bildet den Auftakt zur Ausstellung, und die automatische Ansagestimme scheppert unerbittlich, immer wieder aufs Neue. Die Zeit rinnt. Auch für Manon. Aber war es wirklich nötig, den Ausstellungstitel so auf die Vergangenheit auszurichten? Nur um auf zwei Werktitel gleichzeitig anspielen zu können? Ja, Manon war einst «La dame au crâne rasé», doch diese Arbeit ist nach wie vor gültig. Genauso wie Manons gesamtes Oeuvre. Sie hat bereits über soziale Konditionierung von Identität nachgedacht als dies noch nicht ein breit vorgetragenes Anliegen war. Sie hat Geschlechterrollen thematisiert in einer Zeit als die Gesellschaft noch viel stärker patriarchal geprägt war. Sie hat sich selbst dieser Gesellschaft ausgesetzt, hat ihr Hadern ebenso gezeigt wie ihre Stärke.
Als Manon 1977 nach Paris aufbricht, rasiert sie sich den Kopf. Das war vor über vierzig Jahren eine ungleich radikalere Geste, als heute, da der Buzzcut als Trendfrisur gehandelt wird. Nicht geändert haben sich jedoch die möglichen historischen Bezüge: Frauen, denen man Hexerei nachsagte, wurden die Köpfe rasiert, ebenso wie Französinnen, denen «horizontale Kollaborationen» unterstellt wurden. Es ging darum zu demütigen, Macht auszuüben, die Kraft der Frauen zu brechen. Manon verkehrt die Geste ins Gegenteil. Sie rasiert sich selbst und inszeniert sich für eine 158-teilige Fotoserie. Die Schwarzweissfotografien zeigen eine geheimnisvolle, selbstbewusste Frau, unnahbar und cool.
Der Blick auf sich selbst, die Inszenierung für die Kamera bleiben Konstanten in Manons Werk. Die Fotostiftung zeigt die mehrteilige Werkgruppe «Doppelzimmer», in der sich Manon gemeinsam mit ihrem Partner Sikander von Bhicknapahari zeigt. Wenige Schritte weiter ist «Elektrokardiogramm» zu sehen: Schwarzweisse geometrische Muster dominieren die Rauminstallation. In der dazugehörigen Bildserie posiert die Künstlerin in einer engen Nische, nackt oder angezogen, eingeklemmt, hineingespreizt oder sich herausstemmend. Die Körpersprache ist ein wichtiger Teil der Inszenierung. Ebensowichtig sind die Räume. So verwendet Manon für ihr Langzeitprojekt «Hotel Dolores» – 2017 im «Kulturraum S4» im Kloster Magdenau ausgestellt – heruntergekommene Hotelinterieurs als Kulisse für vieldeutige Arrangements, in denen sie auch selbst auftritt. Vorhänge, hochhackige Lackstiefeletten, alte Gitterbetten, aber auch der Staub und Dreck verbinden sich auf suggestive Weise.
Eine von Manons bekanntesten Serien ist «Einst war sie Miss Rimini». Nur ungefähr zwei Dutzend Blätter sind aus dieser 90-teiligen Folge ausgestellt, doch dies genügt immerhin um die unermessliche Spannbreite und Virtuosität von Manons Maskeraden erahnen zu können. Manon konstruiert die Geschichte einer ehemaligen Schönheitskönigin und entwirft deren 60jähriges Ich. Obdachlos oder reich geworden, mausgrau oder glamourös, krank oder alterslos – Manon kann alles sein und ist doch nichts davon. Das Spiel mit den Identitäten hört nicht auf, die eigene Persönlichkeit ist dafür Folie, aber auch Bedingung.