Keine Angst zu klein – kein Wunsch zu gross

by Kristin Schmidt

Auf der internationalen Kunstbühne ist Rivane Neuenschwander längst präsent. Nun zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein ihre erste umfassende Einzelausstellung im deutschsprachigen Raum. Die Themen der Brasilianerin sind die Ängste und Hoffnungen der Menschen – vor allem der Kinder.

Wo kommt die Angst her? Wie lässt sie sich besiegen? Oder wenigstens bannen? Lässt sie sich kleiner und handlicher machen? Rivane Neuenschwander näht Ängste zu Mänteln um. Die brasilianische Künstlerin fragt Kinder, wovor sie sich fürchten. Spritzen, der erste Schultag, Alleinsein in der Dunkelheit, der Bruder, Betrunkene, Kakerlaken, aber auch Tod, Ebola, Flugzeugabstürze oder Erderwärmung – die Ängste der Kinder sind gross oder klein, sie sind konkret oder unbestimmt, aber sie sind immer wichtig und immer ernst zu nehmen. Manche Ängste spiegeln globale Probleme, andere entstammen der direkten Lebenswelt der Kinder. 

Rivane Neuenschwander hat Kinder dort, wo sie als Künstlerin zu Ausstellungen eingeladen war, und in ihrer Heimatstadt São Paulo gebeten, Mäntel gegen die Angst zu zeichnen. Beschäftigen die Kinder in Brasilien der Dengue-Moskito oder Elektroschocks, sind es in Liechtenstein enge Räume, Schmutzwasser oder Überwachungskameras. Gegen diese Ängste zeichnen die Kinder bunte Mäntel und Capes. Die Entwürfe werden mit Nadel und Faden in Textilien übersetzt. Stacheln, grosse Kapuzen, dicker Filz, riesige Taschen, leuchtende Farben und Buchstaben – die Mäntel gleichen in ihrem schützenden Charakter den reich verzierten Ritterrüstungen in Mittelalter und Renaissance. Sie sind wunderschön und sie können im Kunstmuseum Liechtenstein anprobiert werden: Auf dass es gelinge, sich einzufühlen in kindliche Ängste und Bewältigungsstrategien gegen die ureigene Angst zu finden. 

Auch andere Arbeiten der Künstlerin regen zu intensiven und sehr unmittelbaren Auseinandersetzungen an. Im ersten Ausstellungsraum ist «Ich wünsche Dir einen Wunsch» installiert. Das Werk bezieht sich auf einen Brauch in Salvador, einem brasilianischen Pilgerort. Die Menschen dort binden sich farbige Bänder ums Handgelenk oder an die Kirchenpforte. Jedes Band ist einem Wunsch gewidmet. Fällt es dereinst von alleine ab, geht der still formulierte Wunsch in Erfüllung. In die Kunstwelt transferiert, ergibt sich eine Wand voller verschiedenfarbiger Bänder mit Wünschen in Deutsch und Englisch. Die Wunschbänder dürfen mitgenommen werden. Im Gegenzug sind alle gebeten eigene Wünsche zu platzieren, die dann bei einer nächsten Ausstellungsstation auf Reise gehen können. So breiten sich die Wünsche zeitlich und geografisch aus. Oberflächlich betrachtet ist die kunterbunte Installation eine heitere Arbeit, doch hinter jedem Wunsch steckt auch eine Sorge. Diese Ambivalenz zieht sich durch alle Werke Neuenschwanders. «O Alienista» (dt. Buchtitel: Der Irrenarzt) bezieht sich auf eine Geschichte des Schriftstellers Machado de Assis aus dem Jahre 1882, in der ein Arzt eine Nervenheilanstalt eröffnet. Zuerst interniert er dort alle Leute des Städtchens, die für psychisch beschädigt hält, dann stattdessen alle anderen. Dann lässt er wiederum diese frei, um sich selbst in seine Anstalt zu begeben – denn es lässt sich kaum feststellen, wer krank, wer geheilt und wer nur ein bisschen anders ist. Neuenschwander übersetzt die Erzählung in Typen aus Pappmaché: Der Richter, der Kreationist, der Guru, der Revolutionär und viele andere selbsternannte Weltverbesserer treten in einer dichten Installation als surreale Puppen auf und haben doch ganz reale Vorbilder. 

Die raumgreifenden Arbeiten Rivane Neuenschwanders erhalten in Vaduz zu recht viel Platz, aber auch andere Werke werden sorgfältig und schlüssig im Ausstellungsrundgang präsentiert. Dazu gehört beispielsweise das «Inventar kleiner Tode (Hauch)». Das Video zeigt Seifenblasen, die über eine Landschaft schweben. Jede geht in die nächste über, sie zerplatzen nie. Die Schönheit der zarten Formen täuscht nicht über ihre Fragilität hinweg und zeigt sehr unmittelbar, warum die Blase als Metapher so tauglich ist. 

Ob sie die Plattentektonik und zukünftige Kontinentalverschiebungen mit Carpaccio auf einem Teller darstellt oder Kinderzeichnungen voller Gewalt und Waffen animiert in einem schwarzen Kabinett versammelt – Rivane Neuenschwanders Sprache ist ebenso poetisch wie zugänglich. Ihre Arbeiten behandeln die grossen gesellschaftlichen Themen mit ebenso grosser Leichtigkeit und Empathie.