Steilwandkurven fürs Auge

by Kristin Schmidt

Ausstellungsraum und ausgestelltes Kunstwerk gehen bei Marie Lund eine enge Symbiose ein. Die Dänin montiert im Kunstmuseum St.Gallen eigens entworfene Objekte und beeinflusst damit die Dynamik im Raum.

Räume haben Ränder. Die meisten jedenfalls, denn Kugelhäuser blieben bis heute geografische Besonderheiten oder existieren als gestalterische Nischenprodukte. In den meisten Räumen endet der Boden dort, wo die Wände anfangen, und die Wände hören auf, wo die Decke beginnt. Die Flächen stossen aneinander – überall Kanten und Winkel. Passt das zum Menschen? Zu seinen Bewegungen? Seinem Körper? Marie Lund (*1976) stellt diese Fragen nicht auf einer theoretischen Ebene, sondern gibt mit ihren installativen Arbeiten den Räumen einen Dreh. Dafür braucht die dänische Künstlerin keine massiven Einbauten, keine Materialschlachten oder dekonstruktivistischen Übergriffe. Im Gegenteil: Die wohlproportionierten klassizistischen Räume des Kunklerbaus behalten ihre Gestalt. Statt das Zusammenspiel der architektonischen Details wie der schlanken Säulen, der kassetierten Decken und der Fenster- und Türlaibungen zu stören, bringt Marie Lund es mit sparsamen, bildhauerischen Gesten erst recht zur Geltung. Dies gelingt einerseits aufgrund der Schönheit und Materialästhetik der plastischen Elemente und andererseits aufgrund ihrer sorgfältigen Platzierung. Im ersten Raum schmiegen sich vier «Sills», 2021 zwischen Boden und Wand, zwischen Wand und Decke. Die halbrund gedengelten Kupferbleche sind Steilwandkurven für das Auge: Sie fangen die Energie des Blickes auf, lenken ihn wieder in den Raum hinein und ziehen ihn aufs neue an. Diese Dynamik artikuliert Lund auch mit der Einladung an Cally Spooner (*1983), innerhalb der Ausstellung eine Performance zu zeigen. Spooner begreift den Raum als Bewegungsanregung, Lunds Bodenelemente dienen dafür als Verstärker. Sie bilden zugleich die Spange in den Aussenraum. Dort bilden piedestalartige Strukturen den Spannungskontrast zu einer eigens platzierten Figur von Hans Josephson (1920–2012).
Im zweiten Ausstellungssaal konzentriert sich Marie Lund auf die vier Säulen. Auf rechteckiger Grundfläche stehend formulieren sie ein eigenes Raumvolumen. An jeder Säule ist nun ein Flügel befestigt. Ähnlich wie die Spoiler aus dem Fahrzeugbau beeinflussen diese «Plies», 2021 die Strömungsenergie und lenken die Kräfte im Raum. Sie sind eigens für die Ausstellung entstanden und das Ergebnis einer bewährten Zusammenarbeit: Marie Lund verbrachte einen Monat als Gastkünstlerin in der Stiftung Sitterwerk in St.Gallen. Ihre Materialrecherchen im dortigen Werkstoffarchiv flossen in ihre neuen Arbeiten ein. So entschied sich die Künstlerin bei den «Plies» für eine emaillierte Innenfläche in sattem Dunkelrot. Ihrem Glanz antwortet auf der Rückseite eines jeden Flügels die raue Metallhaut mit vielen Zwischentönen. Auch hier wieder spielen Form und Oberfläche auf beste Art und Weise zusammen.