Ein Waldkind wird erwachsen

by Kristin Schmidt

Wenn es kein Klassenzimmer gibt, sondern den Spechtplatz, den Moosmenschenplatz oder den Krokusplatz, wenn es kein Dach gibt, sondern Wetter, wenn es keinen Schulgong gibt, sondern Vogelgezwitscher, wenn laute Kinder laut sein dürfen, stille Kinder Stille finden und bewegungsfreudige freien Lauf geniessen, dann ist Kindergarten oder Schule im Wald. Naturpädagogik ist inzwischen in den öffentlichen Bildungsanstalten angekommen. Häppchen- und stufenweise. Aber wie fühlt es sich an, vier Jahre jeden Unterrichtstag im Wald gewesen zu sein? Was bleibt einem Waldkind vom Wald, wenn es grösser wird? Wie wirkt die Waldvergangenheit in die Gegenwart hinein oder wirkt sie vielleicht sogar für die Zukunft? Johanna Abderhalden aus Speicher war Spielgruppenkind bei den Waldkindern St.Gallen und ging danach in die Basisstufe. Das ist inzwischen sechseinhalb Jahre her – Zeit, die für junge Menschen schnell vergeht: «Meine Zeit bei den Waldkindern ist sehr lange her. Aber ich erinnere mich gut daran und ich war sehr gerne im Wald.» Die Frage, wie es sich stattdessen anfühlen würde, in eine Schule mit Klassenzimmer und Pausenplatz zu gehen, stellte sich für Johanna nicht: «Ich kannte ja nichts anderes, und ich war es gewohnt, bei jedem Wetter in den Wald zu gehen.»
Nebel, Schnee, Regen, Sonnenschein – Waldkinder sammeln je nach Witterung Erlebnisse, die sich tief einprägen: «Wenn es nachts geregnet hatte, dann schlitterten wir den ganzen nächsten Tag auf Matschrutschen die Hänge hinunter.» Unvergessen auch das Verstecken im Nebel: «Ein Kind rannte im Nebel vor und die anderen haben es gesucht. Bei schönem Wetter sind wir viel geklettert, dann waren die Bäume nicht rutschig.» Wie funktioniert für Kinder, die so viel unter freiem Himmel erlebt und gelernt haben, der Übergang in die nächste Schulstufe? Johanna ging ab der dritten Klasse in die Montessori-Schule in Degersheim – der Kontrast zur Waldbasisstufe war da etwas weniger gross, wie Johanna bestätigt: «Für mich war der Wechsel damals in Ordnung. Ausserdem war ich ja weiterhin viel draussen.» Das gilt bis heute: «Ich gehe viel raus und bin jedes Wochenende mit meinem Pferd im Wald.» Vom Sattel aus fühlt sich der Wald freilich anders an als früher mit erdigen Händen im Moos, aber Johannas Nähe zur Natur ist geblieben und zeigt sich in grösserem Kontext: «Ich bin mit dem Wald verbunden und achte dadurch jetzt auch auf das Klima.» Wenn das gelingt, wenn Naturpädagogik den Zugang zur Natur mit allen Sinnen fördert, und wenn sie darüber hinaus auch für Umweltfragen sensibilisieren kann, ist auch dem Wald selbst geholfen.

«Obacht Kultur»; Thema WALD, N° 39, 2021/1