Jiří Makovec — Die Welt als Summe von Momenten

by Kristin Schmidt

Für Jiří Makovec ist jeder Weg ein potentieller fotografischer Streifzug. Mit wachsamem Blick und der griffbereiten Kamera entdeckt er allerorten den besonderen Augenblick, aber auch den Reiz des Alltäglichen. In der Kunst Halle Sankt Gallen zeigt der St.Galler Künstler mit tschechischen Wurzeln jetzt seine Sicht auf die Ostschweiz.

Ein Jugendlicher balanciert auf einem Brückengeländer, ein Pferd schaut aus einer Garage, ein Windhund ruht in einem Schaufenster, drei Eimer voller Blumen im Kofferraum – Menschen, Tiere, Dinge in alltäglichen oder speziellen Konstellationen; kleine Begebenheiten, die weder andauern noch für Publikum arrangiert sind. Jiří Makovec sind sie dennoch aufgefallen. Der Künstler durchstreift Städte, Landschaften, Agglomerationen mit einem untrüglichen Gespür für das Besondere im Normalen und mit einem fotografischen Blick. Er sieht hin, was Menschen und Tiere tun, sieht, was sie sehen oder wohin sie gerade nicht schauen. Mal entdeckt er skurrile Hinterlassenschaften und Anordnungen auf kleinstem Raum, mal grossartige Ausblicke oder kleine Szenen vor monumentaler Architektur oder wie Makovec selbst es zusammenfasst: «Ich fotografiere Motive, die ich nicht erfinden kann. Mich interessiert der Clash von Dingen, Personen, Situationen, die aussergewöhnlich sind. Wenn man allerdings die Welt genau anschaut, ist sie voller solcher Momente. Das Aussergewöhnliche ist also gleichzeitig auch gewöhnlich. Das ist sehr grosszügig und schön».

Quadrat als Chance

Der Künstler fotografiert in Kashgar wie in Prag, in Amalfi wie im Alpstein, in der Favela in Rio de Janeiro genauso wie in Chinatown. Sein Antrieb ist jedoch nicht der Reiz des Exotischen oder des Fremden, auch seine Bilder verweigern sich einer solchen Lesart, denn jede einzelne Aufnahme beruht auf dem zugewandten Interesse des Künstlers für die Welt, für sein Motiv und in seiner zurückhaltenden Aufmerksamkeit für das Sujet. Dabei kommt es ihm weniger darauf an, unbeobachtet zu bleiben, als vielmehr den eignen Blick möglichst genau zu erfassen: «Ideal ist es, die Momente so zu fotografieren, wie man sie mit den Augen sieht. Bis man die Kameras ausgepackt hat, ist man vielleicht schon zu spät. Vielleicht wird es in der Zukunft solche Fotoapparate geben». Bis dahin setzt Jiří Makovec auf die bewährte Technik. Er verwendet in seiner Arbeit ausschliesslich analoge Kameras wie beispielsweise die alten Mittelformatapparate von Hasselblad oder Rolleiflex. Deren quadratische Formate bieten seit fast 100 Jahren den Vorteil eines einerseits ausgewogenen, neutralen Seitenverhältnisses, andererseits nutzte speziell die Reportagefotografie den nachträglichen Zuschnitt auf ein Quer- oder Hochformat und damit die Chance, den wirkungsvollsten Ausschnitt zu wählen. Makovec schätzt das Quadrat, so wie es ist: «Es nimmt mir gewissermassen die Entscheidung ab, ob ich ein querformatiges oder ein hochformatiges Bild mache. Es gibt mir zudem einen grösseren Ausschnitt mit einem Standardobjektiv».

Jede Sequenz ein Bild

Mehr und mehr wendet sich Makovec dem Film zu: «Ich habe schon immer gedacht, dass ich gewisse Szenen gerne auch in Bewegung hätte. Eine erste Annäherung hatte ich an den Film, als mich Freunde als Kameramann für ihren Dokumentarfilm anfragten». Makovec filmt mit dem Auge des Fotografen. Er fügt Sequenzen aneinander, die inhaltlich für sich stehen können und deren jede als eigenständiges Bild funktioniert. Aus den einzelnen gefilmten, sorgfältig montierten Sequenzen ergibt sich eine fortlaufende Erzählung über das Leben. Zusätzlichen Sound brauchen die Aufnahmen nicht, der Künstler lässt den vorgefundenen Klängen ihren Raum. Die filmischen Arbeiten Makovecs sind vom gleichen offenem Blick getragen wie das fotografische Werk. Auch im Film wertet er nicht, sondern entdeckt und beobachtet, was Menschen oder Tiere tun, bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unbeabsichtigt, alleine oder gemeinsam. Sowohl im Film als auch in Jiří Makovecs Fotografien sind Inhalt und Gestaltung gleichberechtigt: «Im Vordergrund ist meine Aufmerksamkeit, die inhaltliche und ästhetische Interessen vereint. Ein gutes Bild ist immer ein Zusammenkommen all dieser Komponenten. Aber wenn du meinen Kontaktbogen anschaust, dann siehst Du, dass es oft mehrere Anläufe braucht bis man das erreicht».

Psychogeografische Streifzüge

Makovec geht nie ohne Kamera aus dem Haus, so zeigt er in der aktuellen Ausstellung in der Kunst Halle Sankt Gallen Bilder aus der Ostschweiz. Diese alltäglichen Wege sind für seine Arbeit ebenso ergiebig wie gezielt gewählte Routen: «Die Koordinaten setze ich mir dabei selber, ich recherchiere auch über Ortschaften und Ereignisse, die mich interessieren, und begebe mich an die Orte. Für ‹Å Ro Spa Brno Lancy› folgte ich einer Zickzack-Linie durch Europa, entlang den lautmalerischen Namen der Ortschaften». Die erwähnte Arbeit beginnt 2018 in Å in Norwegen, führt ihn über Ro in Griechenland, Spa in Belgien und Brünn in Tschechien bis nach Lancy im Kanton Genf. Sie liefert eine unvollständige, aber mannigfaltige Bestandesaufnahme europäischen Lebens. Immer wieder lässt sich Makovec vor Ort auf die vorgefundene Realität ein, unternimmt auf Erkundungstouren, schweift umher. Er blickt der böhmischen Rentnerin in die Augen, die eine einzelne Blume verkauft, er sieht die Taube im Blumentopf und die Bushaltestelle im Nirgendwo. Hinter jedem Moment lauert ein potentieller weiterer, hinter jeder Strassenecke öffnet sich ein neues Stück Welt – Jiří Makovec ist mit seiner Kamera bereit. Verwandt ist sein Ansatz mit der Psychogeographie, wie sie von der Situationistischen Internationale geprägt wurde. Die Künstlerinnen, Künstler und Intellektuellen dieser Gruppe untersuchten vor allem in den 1960er Jahren die Wechselwirkung zwischen Menschen und ihrer Umgebung: Wie beeinflusst der gebaute Raum das Verhalten und die Psyche der Menschen? Wie bilden sich menschliche Gewohnheiten und Bewegungsmuster im Stadtraum ab? Als Rechercheinstrument etablierte die Gruppe das «Dérive», das Erkunden einer Stadt durch zielloses Umherschweifen. Dafür wurden spielerische Regeln erfunden und angewandt. Eine Spur davon findet sich in Jiří Makovecs lautmalerischem Zickzack-Kurs durch Europa. Vor allem aber lässt sich der Künstler treiben und versucht, sich den Blick nicht verstellen zu lassen von Routenplanern, Suchmaschinen oder Navigationsgeräten, denn jenseits dieser omnipräsenten Hilfsmittel wartet der nächste gute Moment.

Die Zitate stammen aus einer Emailkorrespondenz mit dem Künstler vom 26. November 2020.

Jiří Makovec (*1977, Prag) lebt in St.Gallen

2001 FAMU (Fakultät für Film und Fernsehen, Akademie der musischen Künste, Prag)

Auszeichnungen (Auswahl)

2018 Kunstpreis der Ortsbürgergemeinde St.Gallen

2014 und 2017 Werkbeitrag der Stadt St.Gallen

2016 HOSPIZ A.I.R., (Residenz in St. Christoph Am Arlberg, Österreich)

2015 Werkbeitrag des Kantons St.Gallen

2013 British Journal of Photography, One’s to watch

2010 Finalist des Magnum Expression Award

Einzelausstellungen (Auswahl)

2019 The places you’ve left and the places you’ve come to part (I, II) ICP Library, New York, NY

2018 7 minutes (Tokyo), Riffraff, Zürich

2016 VR Tokyo, Planeta, New York, NY

2015 From … to…, Architektur Forum Ostschweiz, St.Gallen

2014 Xinjiang, Mouvement Art Public, Montréal, Kanada

2013 From the island, Oslo 8, Basel

Gruppenausstellungen (Auswahl)

2019 Kameras, Boulev’art, Kunstraum Kreuzlingen

2018 Heimspiel, Kunstmuseum Appenzell

2018 Nowhere Near, Nextex, St.Gallen, Switzerland

2018 Robert Indiana: A Sculpture Retrospective, Albright-Knox, Buffalo, NY

2017 The places you’ve left and the places you’ve come to (I,II), Propstei St Peterzell

2015 Island Iceland Offshore Project Group Show, The Bookshop Projectspace, Skaftfell, Sejdisfjordur, Island

Ausstellung «Wo Wir» bis 14. Februar 2021

www.kunsthallesanktgallen.ch