Kunst unter freiem Himmel und im Block

by Kristin Schmidt

Übervolle Vernissagen, gut besuchte Künstlergespräche, Andrang an Pressekonferenzen, ausgebuchte Führungen – Ausstellungen erleben derzeit ein grosses Interesse. Liegt das wirklich an der Kunst? Stiftet sie Sinn in diesen unvergesslichen Zeiten – wie sie das Kunsthaus Bregenz zum Ausstellungsmotto erkoren hat? Oder ist es einfach die Lust auf Unterhaltung vor Ort nach wochenlanger, erzwungener Abstinenz und bei einem immer noch stark eingeschränkten Angebot? Liegen die Publikumszahlen einfach an der Sehnsucht, einander wieder ausserhalb von Bildschirmen zu sehen? Die Museen und Ausstellungshäuser jedenfalls sind seit Mai wieder auf der Kulturagenda. Sie haben ihre Ausstellungen verlängert oder eröffneten das Haus mit neuen.

Wen es jedoch im Sommer nach draussen zieht und wer dies mit Kunsterlebnissen verbinden möchte, wird ebenfalls fündig. Sehenswerte Open Air-Ausstellungen gibt es beispielsweise im Bergell und im Safiental. In den beiden Tälern haben sich unterschiedliche Formate etabliert, die doch auch Gemeinsamkeiten haben. So ist bei beiden die Frage nicht ganz abwegig, ob diese grossartige Landschaft die Kunst überhaupt braucht oder ob nicht andersherum einfach die Kunst von der Landschaft profitiert. Vor Ort zeigt sich schnell, was die Kunst kann. Künstlerinnen und Künstler schauen anders hin. Sie ermöglichen andere Blicke auf die Landschaft, auf ihre durch menschliches Zutun geprägte Gestalt oder auf Details in der Natur.

Zuweilen führt die Kunst auch an Orte, die ohne sie nicht zugänglich wären. Dank Roman Signer kann beispielsweise anlässlich der Biennale Bregalia der alte Wehrturm der Festungsanlage Castelmur oberhalb von Promontogno erstiegen werden. Zu früheren Zeiten gab es hier einfach eine Leiter, die hochgezogen wurde, wenn sich Fremde näherten. Jetzt führt eine Treppe nach oben und auf der Brüstung stehend können die Wehranlage mit Kirche, Villa und die Zollstation in Augenschein genommen werden. Die Hauptrolle jedoch spielt ein Blecheimer – Roman Signer arbeitet einmal mehr mit Natur und Elementen. Nach «Arte Hotel Bregaglia» (2010–2013) und «Arte Albigna» (2017) nimmt der St.Galler Künstler zum dritten Mal an den Kunstereignissen von Progetti d’Arte im Bergell teil. Zum ersten Mal dabei ist Asi Föcker. Die gebürtige Luzernerin lebt seit einiger Zeit in der Ostschweiz und ist hier inzwischen bekannt für ihre präzisen Arbeiten mit Licht, Reflexionen, Bewegung und Schatten. Eine mehrwöchige Installation im Freien zu realisieren, war für Föcker jedoch durchaus eine Herausforderung. Ihre Arbeit mit einer Spiegelwand wirft Reflexionen auf einen Felsvorsprung, die nur bei Sonnenschein zu sehen sind und mit dem Sonnenlicht wandern.

Zehn weitere Künstlerinnen und Künstler aus allen vier Sprachregionen der Schweiz werden ihre Arbeiten im Bergell zeigen. Eine besondere Position unter ihnen nimmt Patrick Rohner ein, denn sein Beitrag «Die Natur kennt keine Katastrophen» wird die Biennale Bregaglia mit der Art Safiental verbinden. Im Safiental ist es die dritte Ausstellung im Zweijahresrhythmus. Das Motto ist diesmal «Analog – Digital». Das Digitale wird hier unter freiem Himmel jedoch keine Oberhand bekommen, es geht nicht zurück an die Monitore und Videokonferenzen. Aber einige Werke erschliessen sich beispielsweise erst durch eine heruntergeladene Tonspur, eine App oder den bereitgestellten Virtual Reality-Helm. Andere überführen die digitalen Welten ins Analoge. So wird das jüngst mit dem Bündner Kunstpreis ausgezeichnete Duo frölicher/bietenhader eine typische Bildstörung in der realen Welt nachbauen: Plötzlich bekommt das Auge einen Landschaftsauschnitt nur noch verpixelt zu sehen. Das provoziert Auge und Hirn, die Blicke noch aufmerksamer schweifen zu lassen, und so entdecken sie vielleicht auch Spuren vergangener Ausstellungen, wie etwa das 2018 in den Fels gezeichnete Motherboard, das nach und nach im Steinbruch verschwindet.

Als Grundprinzip der Ausstellungen in den Alpentälern jedoch gilt: Die Kunst ist nur zu Gast. Alles wird wieder abgebaut. Eines jedoch wird im Safiental schon zum dritten Mal wieder aufgebaut: Die «Bergkanzel» von Com & Com taucht diesmal auf dem auf dem alten Säumerpfad beim Glaspass auf und wird wieder neue Aussichten bieten.

Das dritte Mal: Nicht nur die Art Safiental ist bei dieser besonderen Zahl angekommen, sondern auch der Geile Block. Ja sogar seine Urheberin Laila Bock. Hinter der Kunstfigur stehen diesmal Anita Zimmermann, Jordan Theodoridis und Werner Widmer. Die drei haben in Arbon einen Block im X-Large-Format aufgetan. Entsprechend gross ist auch die Zahl der Beteiligten: 48 Künstlerinnen und Künstler machen mit und alle zeigen eine Einzelausstellung, denn der Bau auf dem ehemaligen Industrieareal bietet genug Räume, genug Platz. Und er darf verändert werden. Das Duo steffenschöni beispielsweise wird den Boden auffräsen und als riesige Druckplatte verwenden. Die St. Gallerin Beatrice Dörig wird eine Endlosschleife auf den Boden zeichnen. Auch Alex Hanimann verwendet den Bau als Anregung und holt das Gebäude ins Gebäude, wieder andere nutzen ihren Raum als Showroom für Bestehendes. Mit dieser Vielfalt und den dicht gesetzten Veranstaltungen hat sich der Geile Block längst unentbehrlich gemacht in der Ostschweizer Ausstellungslandschaft.

Auf Konstanz setzt auch der Kulturort Weiertal. Mit den spektakulären Kulissen des Bergell und des Safientales kann er nicht mithalten, aber er bietet anderes: Die Szenerie ist idyllisch, der Garten eine Oase unweit von Winterthur. Hier präsentiert sich die Kunst zwischen Hochstämmern, Gartenweiher, Lauben und Bächlein. Die diesjährige Ausstellung reiht sich nicht in die Biennalereihe ein – die findet im Weiertal immer in den ungeraden Jahren statt – sondern gehört zum Galerieprogramm. Das Motto «Alles im grünen Bereich?» ist gemünzt auf die Natur und ihre Gefährdung, die auch hier im bienenumsummten Gartenparadies näher rückt. Es ist ohnehin durch und durch vom Menschen geprägt. Dessen Umgang mit der Natur und die gravierenden Folgen haben sich den letzten Monaten sehr deutlich gezeigt. Und es passt perfekt, dass sich das Projekt «Froh Ussicht» in diesem Jahr den Hindernissen, Ängsten und Chancen einer gemeinsamen Zukunft von Menschen und Tieren widmet. Der Bauernhof in der Nähe des Zürichsees ist seit 2008 regelmässig Schauplatz für künstlerische Projekte. Sie entstehen für den Landwirtschaftsbetrieb vor Ort und beziehen von hier aus Position zu Fragen von weitaus grösserem Horizont. Der Titel der diesjährigen Ausstellung «Wir werden uns womöglich verwandeln» deutet es an: Neue Geschöpfe zu erschaffen ist eine alte Sehnsucht, aber die technologischen und medizinischen Fortschritte ermöglichen es heute, Körper nach Belieben zu verändern, die Gene zu manipulieren und an Möglichkeiten zu denken, die noch vor nicht allzu langer Zeit utopisch erschienen. Wenn solche Fragen auf einem Biobauernhof und in Anwesenheit von 1´300 Hühnern verhandelt werden, haben Kunst und Leben definitiv zusammengefunden. Und keine Sorge: Gummistiefel stehen in allen Grössen zur Verfügung.

Landluft und Alpenpanorama, Bergkanzel, Bodenseeblock und Gartenidylle – die Kunst lässt sich ausserhalb der Zentren feiern. Bleibt in den Städten nur das übliche Programm der etablierten Häuser? Mitnichten. In St.Gallen gibt es Hochkarätiges nicht nur in den üblichen Kunstorten. Kuratorin Nadia Veronese besetzt Schaufenster in der Innenstadt mit aktuellen Werken von Schweizer Künstlerinnen und Künstlern. Sie arbeiteten in den vergangenen Monaten ebenso abgekapselt, wie die Ladenzeilen verwaist waren. Wenn nun die Geschäfte ihre wirksamste Werbefläche der Kunst abgeben, werden Grenzen überschritten: zwischen Kunstpublikum und Laufkundschaft, zwischen Kunstwelt und lokalem Gewerbe, zwischen Konzepten und Produkten. Die Schwelle ist niedrig, der Kunstkontakt unmittelbar, die Ausstellungsfläche von maximaler Präsenz – ein Gewinn für beide Seiten.