Mit Marker und Schere

by Kristin Schmidt

Das Kunstmuseum St.Gallen zeigt die Stringenz und Vielfalt der Arbeit Geta Brătescus in einer sorgfältig kuratierten Schau, der ersten in der Schweiz. Die Rumänin blieb bis zu ihrem Tod vor zwei Jahren künstlerisch experimentierfreudig mit Material und Form.

Präzision und Freiheit, Gleichmass und Zufall – Geta Brătescu (1926–2018) arbeitete mit Gegensätzen. Aber die Künstlerin tat dies auf eine Art und Weise, dass die Widersprüche nicht mehr als konträre Pole wirken. Sie fügen sich zu einer ästhetischen und inhaltlichen Einheit. Vielleicht liegt das daran, dass die Künstlerin selbst mit diesen Kontrasten gelebt hat. Ihr künstlerisches Werk entstand zu wesentlichen Teilen in Rumänien unter der Diktatur Ceaucescus. In dieser von Staatsdoktrin und Personenkult geprägten Welt gelang es Brătescu, unabhängig und progressiv im Denken und in ihrer Arbeit zu bleiben. So stellt ihr Werk das vollständige Gegenbild zum sogenannten sozialistischen Realismus dar.

Die Künstlerin wuchs in einem bürgerlichen Elternhaus auf. Dies sollte sich bald als Hindernis herausstellen: So konnte sich Brătescu zwar 1945 an der Kunsthochschule und an der Bukarester Fakultät für Literatur und Philosophie einschreiben, wird jedoch 1948 aufgrund ihrer Herkunft von der Kommunistischen Partei vom Hochschulstudium ausgeschlossen. Resigniert hat sie jedoch nicht, sondern ihr Werk konsequent ausgearbeitet und weiterentwickelt. Zehn Jahre später erhielt sie offiziell wieder die Möglichkeit zur künstlerischen Arbeit und war als Grafikerin tätig. Die Verwandtschaft beider Disziplinen spiegelt sich deutlich in ihrem Werk: Brătescu geht von einem eigens entworfenen Formenvokabular aus und dekliniert dessen gestalterisches Potential durch. Sie setzt Linie und Fläche, Fläche zu Fläche und Farbe zu Linie. Damit bringt sie Ordnung in die Welt. Jeder Strich ist das Ergebnis einer Entscheidung, einer bewusst getroffenen Auswahl aus einer unendlichen Varianz. In Serien wandern die Bildelemente spielerisch über den begrenzten Raum des Papiers. Sequenziell und kleinformatig – kaum postkartengross – sind diese Arbeiten. Das ist einerseits dem begrenzten Platz in ihrem Atelier geschuldet, und ist andererseits Ausdruck einer Haltung: Brătescu gewann Freiheit aus der Reduktion. Und sie war sich ihres Tuns sicher. Neben den Papierarbeiten, den Collagen und Zeichnungen selbst zeigen das auch die Videoaufnahmen der Künstlerin bei der Arbeit: Selbst in hohem Alter noch, mit steifer und faltiger gewordenen Händen zeichnet Brătescu mit einem mehr als fingerdicken Marker Linien aufs Papier: Schwarzer Balken im Weiss – genau da, wo ihn die Künstlerin setzt, gehört er hin.