Die Linie als Ding und Metapher

by Kristin Schmidt

Was wäre die Kunst ohne die Line? Ist nicht selbst der Punkt der potentielle Anfang einer Linie? Und die Kante eines dreidimensionalen Körpers? In der Kunst Halle Sankt Gallen wird das Verständnis der Linie ausgeweitet. In den Werken von fünf Schweizer Künstlerinnen und Künstlern erscheint die Linie als Grenze, als Grat, als Strich – oder gar nicht.

Eine Linie kann jede Gestalt annehmen. Sie kann zum Ornament verbunden, zur Fläche verdichtet werden, sie kann die Welt beschreiben, und kann sie auch verändern, je nachdem, wer den Stift, den Marker, die Feder in der Hand hat. Und Linien sind auch dort zu finden, wo sie nicht mit einem Zeicheninstrument gezogen werden. So existieren sie als unsichtbares Hindernis zwischen zwei Ländern oder als Barriere im Kopf. Diesem grossen Spektrum begibt sich die Kunst Halle Sankt Gallen auf die Spur. Wie schon in vergangenen Gruppenausstellungen ist die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler eine subjektive. Die Schau versucht auch gar nicht erst einen Anspruch auf Vollständigkeit einzulösen oder ein Bild einer Generation zu entwerfen, auch wenn alle Beteiligten in den 1980er-Jahren geboren und in der Schweiz aktiv oder an schweizerischen Kunstschulen ausgebildet worden sind. Wer Gemeinsamkeiten sucht, findet sie in der grossen Geste und den schieren Ausmassen der Arbeiten. Sie sind raumgreifendend auch dann, wenn sie eigens für die Ausstellung realisiert worden sind wie Marine Juliés riesige Wandzeichnung. Die Künstlerin hat mit tiefblauen Linien einen figürlichen Kosmos entwickelt, indem Sterne gleichzeitig Hände sind und Brustwarzen zu Augen werden. Die Linie ist zwar überdeutlich, aber die Grenzen zwischen den Geschlechtern und Dingen verwischen umso mehr. Bei Simon Paccaud sind die Linien tief eingegraben in Betonquader und erinnern an die lange Geschichte der in Wände gekratzten Graffiti: Er ritzt eine Tafelrunde in die eigens errichtete Mauer, die wiederum selbst eine Linie im Raum bildet. Simone Holliger ist mit einer Werkgruppe präsent, der Grossteil davon im schmalsten Raum der Kunst Halle. Dessen gestreckte Dimensionen und die Enge nutzt sie gekonnt für ihre fragilen Papierplastiken. Hier bildet jede Falte, jeder Knitter, jede Kante eine Linie; aber eigentlich funktionieren sie auch ohne diese thematische Klammer sehr gut. Gedrängt ist es auch im letzten Raum, hauptsächlich besetzt vom überaus heterogenen Werk von Linus Bill und Adrien Horni. Beide arbeiten im Kollektiv, verweigern sich also sogar der Linie der Autorschaft und trennen auch nicht zwischen Druckgrafik und Malerei oder Plastik und Gebrauchsobjekt. Das ist wild, unbefangen und manchmal komisch, aber linear ist es nicht. Für klassischere Vorstellungen von Linien empfiehlt sich dann doch die «Poesie der Linie», eine aktuelle Ausstellung italienischer Meisterzeichnungen im Kunsthaus Zürich.