Das Leuchten der Hochalpen

by Kristin Schmidt

Giovanni Segantini hat die Ikonografie der Berge geprägt. Zentral in seinen Werken ist die Dichotomie von Dunkel und Licht – eine Ausgangslage, die Künstlerinnen und Künstler bis heute herausfordert, ob mit Bergsujet oder ohne.

Giovanni Segantini (1858–1899) ist ein regelmässiger Gast im Kunstmuseum St.Gallen: Seit 1956 wurde er ungefähr alle zwanzig Jahre gewürdigt, und so wie die Lichtstimmung in jedem Segantinibild anders ist, ist auch jede der Ausstellungen ein Solitär. In «La Luce Alpina» sind jetzt vierzehn Gemälde Segantinis – eine stattliche Anzahl angesichts heutiger konservatorischer Restriktionen und nur möglich dank der zentralen Werkgruppe aus der Otto Fischbacher Giovanni Segantini-Stiftung – von aktuellen Werken umgeben. Letzteres ist durchaus wörtlich zu verstehen, denn die Gemälde Segantinis haben ihren grossen Auftritt in der Mitte, im Oberlichtsaal. Dies ist die richtige Entscheidung, denn so wird einerseits den leuchtkräftigen Gemälden die ideale Lichtsituation zuteil, andererseits entfalten sich die anderen fünf Positionen in gut gewählter Raumabfolge rundherum: Im dunkel gestrichenen ersten Saal dehnt Siegrun Appelt (*1965) das Sehen. Langsam gleiten unstete, atmosphärische Bilder aus Licht und Farbe ineinander über. Sie bilden nicht ab, sondern bergen das Potential zu Bildassoziationen in sich. Im angrenzenden Raum ist Dove Allouches (*1972) Synthese von Licht und Dunkel zu sehen. In alchemistischer Manier experimentiert der Franzose mit Radiographien und mit metallischen Flüssigkeiten auf lichtempfindlichem Papier und beweist, dass die eindrücklichste Art, das Licht zu zeigen, das Dunkel ist. Patrick Rohner (*1959) verbindet nicht nur der Lebensort in den Bergen mit Segantini, sondern auch die künstlerische Arbeit in der Natur. Zwar entstehen seine prozessualen, vielschichtigen Ölbilder im Atelier, gezeigt werden aber auch Steinzeichnungen, in denen die Jahreszeiten selbst ihre Spuren gelegt haben.

Am direktesten wird das Ausstellungsmotto in den beiden südseitig gelegenen Räumen umgesetzt: Philippe Rahm (*1967) konzipierte für «La Luce Alpina» eine Arbeit aus weiss gestrichenen Bodenplatten in der Silhouette des maximalen Lichteinfalls und mit bläulicher Beleuchtung. Damit transferiert der Architekt das erhebende Strahlen hochalpinen Lichtes in den Innenraum des Kunstmuseums. In perfekter Nachbarschaft dazu stehen Not Vitals (*1948) «Tschinch Muntognas», jene fünf Berge im Grenzgebiet zwischen dem Engadin und Südtirol, in fragiler Eisendraht-Gips-Version im Gegenlicht. Sie sind Abbild und Abstraktion, sind Form und Oberfläche und transferieren Segantinis Gipfelketten in den dreidimensionalen Raum.