Wer stolpert denn da?

by Kristin Schmidt

«Unter Tag – Kulturgut der Zukunft» ist die dritte Station der Reihe Kulturraum S4. Dieses Projekt des kantonalen Amtes für Kultur bringt kulturell und historisch bedeutsame Orte rund um den Säntis in einen Dialog mit zeitgenössischer Kunst.

Kunstausstellungen haben längst die Museen und Galerien verlassen. Kunsthallen haben sich in Fabrikhallen, Garagen, säkularisierten Kirchen eingenistet. Kunst wird in alten Schulgebäuden, Kraftwerken, Brauereien oder Bahnhöfen gezeigt. Aber eines haben diese Bauten doch gemeinsam: Ihre Böden und Wände sind gerade; und meistens gibt es Tageslicht.

Das ist beim jüngsten Projekt in der Reihe «Kulturraum S4» anders: Im aktuellen Ausstellungsraum ist der Boden nicht nur etwas uneben, sind die Wände nicht einfach etwas aus dem Lot. Hier gleicht kaum ein Quadratmeter dem anderen. Der Boden ist von losem Steinmaterial übersäht, plötzliche Krater tun sich auf oder kniehohe Felskanten stellen eine Falle und das bei fast vollständiger Dunkelheit: Der Kulturraum hat in einer Kaverne Halt gemacht. Sie gehört der ESPROS Photonics AG in Sargans.

Das Unternehmen liess auf der Suche nach einer Produktionsstätte für hochwertige Halbleiterchips die Kaverne samt Notausgangsstollen aus dem Gonzen ausheben. Genutzt wurde sie bislang aber nicht und bietet damit eine grossartige Chance für die Kunst. Denn in dem riesigen unterirdischen Raum funktionieren keine Standardlösungen. Hier, wo das Unternehmen die Erforschung aktueller Technologien geplant hat, müssen auch die künstlerischen Ideen neu gedacht, neu entwickelt werden. Nicht nur die Dunkelheit stellt eine besondere Herausforderung dar, sondern auch die Grösse des Raumes, die Luftfeuchtigkeit, die nicht vorhersehbaren Bewegungen der Ausstellungsbesucherinnen und -besucher, die sich ihren Weg bahnen müssen zwischen Steinstufen, Geröll und Schotter.

Bezieht sich Timo Müller mit seiner Arbeit auf diese tastenden Schritte, auf dieses suchende Vor-und-zurück oder doch lieber seitlich? Oder schlägt er den Bogen zur ESPROS-Senortechnik, die selbstfahrende Vehikel möglich macht? Das «Zelt» ist ebenso doppeldeutig wie poetisch. Es stolpert in unregelmässigen Abständen über den Kavernenboden. Seiner brachialen Art umherzuwandern mutet so gar nichts Technisches an. Eher noch könnte eine ausser Rand und Band geratene Festgesellschaft den weissen Pavillon unbeabsichtigt in Bewegung gesetzt haben. Wenn sie doch nur nicht in Asi Föckers «Vermutung der Form Nr. 3» stürzt. Die St. Galler Künstlerin setzt dem ursprünglichen, hochspezialisierten Kavernenzweck eine elementare, auf das Wesentliche reduzierte Lichtinstallation entgegen. Im Duett reflektieren Spiegel das spärliche Licht zweier kleiner Lampen und lassen es über die unregelmässigen Wände flimmern wie kleine Irrlichter – hier wird sogar der Bezug zum benachbarten Bergwerk Gonzen und seinen Grubenarbeitern hergestellt.

Ebenso hervorragend wie für Lichtinstallationen ist die Kaverne für Videoarbeiten geeignet. Gabriela Gerber und Lukas Bardill integrieren die farblichen und räumlichen Unregelmässigkeiten der Spritzbetonwand in eine Zeichnungs- und Wortprojektion. Ursula Palla lässt einen Labrador in vollkommener Gelassenheit mitten im Kavernenbauch verweilen. Daneben lässt Filmemacher Peter Mettler einen beeindruckenden Lavastrom über die Höhlenwand fliessen. Andy Guhl verwandelt in gewohnt gekonnter Weise Alltagselektronik in einen projizierten Farb- und Formenreichtum, der diesmal noch ergänzt ist um Elemente aus der Fertigung des Hausherrn.

Auf ganz andere Weise, aber ebenso schlüssig beziehen sich Nicolò Krättli und Jonathan Banz auf den Ort. Sie platzieren ein lebensgrosses Ohr neben einem Stalagmiten – irgendwann werden beide eins geworden sein. Während diese Arbeit von einem kräftigen Lichtstrahl erhellt wird, verlässt sich Matthias Rüegg auf die feinen menschlichen Sinne. Nur wer genau hinschaut, wird das Farbspiel der 50 verschiedenen Glasscheiben entdecken. Und nur wer genau hinhört, nimmt das feine Klirren der Klanginstallation von Barblina Meierhans wahr.

Am Ende des Notstollens hin zur eigentlichen Kaverne wird die Kunst dann wieder grossmasstäblicher. Florian Germann konstruiert einen phallusförmigen Körper, der Wasserdampf versprüht. Der feine Nebel breitet sich mit seiner eigenen Dynamik weit in den Raum hinein aus und hält sich lange in der kühlen Umgebung. Dann schliesslich ist das Geländer erreicht und damit die perfekte Aussicht auf eine Fahrbahn mit zwei verhüllten Autos, entwickelt und installiert von Ilona Rüegg. Wie von Geisterhand bewegt, gleiten die Fahrzeuge aneinander vorbei, begegnen sich, entfernen sich voneinander, warten aufeinander, begegnen sich aufs Neue. So schön kann autonomes Fahren sein. Der Kontrast Timo Müllers tappendem Zelt ist gross und doch kommt hier die Ausstellung wieder zu ihrer Ursprungsidee zurück: Höhlenarchaik und Automatisierungstechnik passen durchaus zusammen.

Wer stolpert denn da?