Blickwechsel

by Kristin Schmidt

Seit vielen Jahren arbeiten Beatrice Dörig und Andrea Vogel in St. Gallen. Bisher haben sie jedoch nie gemeinsam ausgestellt. Die aktuelle Präsentation im Projektraum nextex zeigt nun überraschende Parallelen im Werk beider Künstlerinnen.

Ein vergittertes Fenster ist ein Bild des Misstrauens und der Angst. Das Gitter weist ab, aber es schliesst auch ein. Wer drinnen ist, hat keinen freien Blick nach draussen, wer draussen ist, bekommt suggeriert, dass hier etwas oder jemand weggesperrt ist. Diese Ambivalenz bleibt auch dann erhalten, wenn ein Gebäude eine neue Funktion erhält, so wie beim Projektraum Nextex der visarte.ost. Er befindet sich seit anderthalb Jahren im ehemaligen italienischen Konsulat St. Gallen und der frühere Zweck des Gebäudes zeigt sich noch in Schalterkabinen, Fenstern mit Pultöffnung und Aktenschränken und bis vor kurzem in den Gittern im Erdgeschoss. Jetzt sind diese aber verschwunden. Zumindest aus den Fenstern. Für ihre Doppelausstellung mit Beatrice Dörig hat die St.Galler Künstlerin Andrea Vogel die Gitter entfernen und biegen lassen. Die radikale Geste erlaubt nun den ungehinderten Durchblick, lässt den Raum offener erscheinen und fördert zugleich die Kommunikation: Acht Gitter stehen durch die 90°-Biegung an der Ober- und der Unterkante jetzt frei im Raum und bieten sich als Sitzgelegenheit an. Platziert in Ensembles treten sie bereits miteinander in einen Dialog. Zugleich korrespondieren sie mit der grossformatigen Wandzeichnung von Beatrice Dörig. Die Künstlerin, ebenfalls St.Gallerin, arbeitet seit einiger Zeit an grossformatigen Linienzeichnungen, die für sich genommen ein Porträt der Zeit sind. Sie legt Linie neben Linie, der Stift hinterlässt eine Spur, mal enger an der Nachbarlinie, mal etwas weiter entfernt und mitunter entwickeln sich auch Kreuzungen. Dadurch entsteht in der Fläche ein Raum. Wenn nun Beatrice Dörig diese Linien im Nextex auch um Mauerkanten herum und in Nischen hinein und wieder heraus fliessen lässt, evoziert jeder Strich nicht nur im Bildraum die Dreidimensionalität, sondern wird tatsächlich Teil des realen Raumes.

Vogels Transformation der Gitter und Dörigs raumbildende Linien rufen Deleuzes Schrift zur barocken Falte in Erinnerung. Beide Arbeiten erlauben neue, flexible Perspektiven, beide spielen mit der Nähe zum Ornament, bewahren sich eine grosse Autonomie im Raum und funktionieren auf mehreren Wahrnehmungsebenen. So haben Dörigs Linien beispielweise auch einen starken textilen Charakter, und Andrea Vogel hat die geschwungenen Fenstergitter eines kleineren Raumes in ein Bettgestell verwandelt, das nun die ganze Vieldeutigkeit einer eisernen Schlafstatt in sich trägt.