Schaudern und Spielen

by Kristin Schmidt

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche – was für die Einen das Werk des belebenden, holden Frühlings ist, ist für die Anderen eine eklige Jahreszeit: Thomas Stüssi betrachtet das grosse Schmelzen mit ambivalenten Blicken.

Der Schnee geht. Zurück lässt er aufgeweichten Boden, eingedrückte Dächer, gebrochene Äste. Alles verliert seine Form. Nie ist ganz sicher, ist etwas schon kompostiert oder noch nicht? Lebt die Natur nicht mehr oder doch schon wieder?

Thomas Stüssi hat den Verfall fotografiert, die Hütte im Gegenlicht, die sich nur noch knapp zu halten scheint. Vielleicht stürzt sie schon morgen ein, vielleicht in einer Woche, vielleicht beim nächsten Frühlingssturm. Die Schneelasten waren zu schwer für das alte Holz. Aber selbst das steinerne Kapitell des Brunnens haben sie verschoben und die am Stamm verbliebenen Äste des gefallenen Baumes zur Seite gedrückt, gegeneinander verschränkt und zu ineinander stürzenden Linien verflochten. Alles erliegt der Schwerkraft. Sie ist unberechenbar und kann doch berechnet werden: Die Gravitationskonstante bestimmt ihre Stärke, basierend auf der gegenseitigen Anziehung von Massen. Aber erst Carl Friedrich Gauß hat sie in Einheiten des Sonnensystems ausgedrückt und damit ermöglicht, die Bewegungen der Planeten zu berechnen, ohne ihr Gewicht zu kennen.

Stüssi adaptiert die Gaußsche Gravitationskonstante und durchmisst damit das Bauernhaus, in dem er lebt. Alle 172 cm eine Messung, eine Zahl, ein Wert und damit ein Beweis für die passierte Ordnung: Neigungen unterschiedlichen Grades durchziehen das Haus von Ost nach West. Das Haus steht und ist doch nicht gerade. Das Bauholz hält und lebt weiter. Aber gar nicht so fern vom Haus hat die Naturkraft die Natur zersetzt: Mäuse haben unter dem Schnee Bahnen in die Grasfläche gewühlt. Jetzt, im Frühling, liegt das Labyrinth frei; ein Abbild dessen, was unter der Oberfläche passiert. Unablässig, unbemerkt, unheimlich und doch so nah. Schaudern breitet sich aus. Das Gegenrezept dazu: spielen. Aus den zerknickten Tannenzweigen werden Beinkühe. Die können sogar fliegen. Sie überwinden die Schwerkraft, die Trägheit, all das, was festhält und bindet. Sie überwinden die Zersetzung, die Verankerung, das grosse Schmelzen. Sequentiell angeordnet, lassen die Fotografien den Film im Kopf ablaufen: Montage, Start, Flug. Auf und davon.

Obacht Kultur, No. 33 | 2019/4