Alfred Sturzenegger – Eine Einführung

by Kristin Schmidt

Die Blätter fallen. Zu Tausenden segeln sie von den Bäumen, kaum beachtet, nur vereinzelt ausgewählt und mitgenommen. Doch jedes lohnte eine Betrachtung mit seiner Symmetrie und den doch vorhandenen Abweichungen, mit der Mittelrippe, der Seitenrippen, den sich immer feiner verzweigenden Leitbahnen. Immer wieder anders sind auch der Blattrand, die Farbe, die Insektenspuren. Die Blätter sind unscheinbar, zugleich ist jedes für sich betrachtenswert. Das gilt für viele, uns umgebende Dinge.

Alfred Sturzenegger sieht hin, wählt aus und vertraut den Dingen, den Zeichen, der Zeichnung: Selbst das Kleinste, Unscheinbarste kann eine Erfahrung vermitteln. Er vertraut dem Eindruck. Er sucht seine Themen nicht, sondern ist aufmerksam, achtsam, nimmt sich die Zeit und beginnt zu arbeiten. Nichts passiert vorsätzlich, stattdessen spielen Zufälle eine ebenso wichtige Rolle wie die Konzentration während der Arbeit.

Alfred Sturzenegger behält, was er für gut befindet: ein Blatt, aus Papier oder von einem Baum, ein Stück Wellpappe, etwas Silberpapier, ein Wort, eine Postkarte, unbedruckte Zeitungsbünde, gelochtes Packpapier. Er gibt den Dingen Raum, einen Rahmen und sorgsam ausgewählte Nachbarn. Es ist eine fragile Balance: Sind zwei Dinge beieinander, entspinnt sich ein Dialog. Kommt ein drittes hinzu, nimmt die Geschichte eine andere Wendung. Ein viertes Element eröffnet neue Ansichten, einen neuen Gesamtklang. Nichts ist endgültig, bei anderen Gelegenheiten können andere Werke zu neuen Gruppen zueinander finden, neue Klänge entstehen. Stets ist es auch der Raum, der seine Rolle spielt, ebenso wie das Licht und der Moment.

Alfred Sturzenegger fügt einzelne Töne zu Stücken, musikalisch, mehrstimmig wie traditionelle Partituren, mit Kontrapunkten und Harmonien. Gefundenes verbindet sich mit Gezeichnetem, mit Notationen von Grafit, Bleistift und Farbe.

Sturzenegger arbeitet viel mit der Hand, aber Geste wird nie zum Selbstzweck. Er mischt die Farben, trägt sie mit der Hand aufs Papier auf. So entstehen beispielsweise zwei ausfasernde, erdige Formen. Fingerabdrücke formen die Kontur und Binnenstruktur. Die Formen sind flüchtig, lösen sich aber nicht auf, sondern verharren in grosser Dynamik. Ein Widerspruch ist das nicht, sondern ein Resultat der Handbewegungen. Bevorzugt verwendet Sturzenegger Gouachefarben. Sie lassen sich lange bearbeiten und somit immer wieder verändern. Sie sind wärmer, weicher, fliessend.

Sanft und selbstbewusst beherrscht eine orangefarbene Form das Blatt, sehr innerlich, vorbereitet durch acht Blätter in Olivgrün. Die Farbe reicht hier bis zum Rand. Sie fliesst, ist an manchen Stellen durchscheinend bis zum Verschwinden, zieht sich an anderen zu dunklen Rinnsalen zusammen.

Stets sind die Töne gemischt, es sei denn, sie sind gefunden: ein hellblaues Papier ergibt ein sanft leuchtendes Farbfeld. Es strahlt in den Raum hinein und ist offen, ein Angebot. Das gilt für alle Arbeiten Sturzeneggers. Sie sind persönliche Äusserungen und drängen sich nicht auf. Sie sind einfach da, involvieren niemanden und ermöglichen doch vielfältige Erfahrungen. So ist bei einer Postkarte mit weidenden Schafen Georg Friedrich Händel nicht fern und jener Arie aus dem Messiah-Oratorium «Er weidet seine Herde». Über der Postkarte lässt ein kopfstehender Ausschnitt derselben Karte die Äste und Blätter kreisen. Alles dreht sich, die Welt wird weit, noch weiter durch die beiden weissen Vierecke. Nichts muss, alles kann. Das Stück Silberpapier hat seine eigene Form mitgebracht, das Fragezeichen ohne Punkt lässt alles offen. Darunter weisen diskrete Pfeile erneut weiter. Wohin? Das Leben ist nie sicher. Auch für Alfred Sturzenegger nicht, von Anfang an. Seit 40 Jahren bestimmt die künstlerische Arbeit sein tägliches Tun, sie ist seine Identität.