Glauben oder Sehen

by Kristin Schmidt

«Landschaft ist nicht etwas Äusserliches, sondern entsteht kulturell. Jeder assoziiert etwas Anderes.» Olaf Nicolai begreift Landschaft nicht als räumlich begrenztes Gebiet mit bestimmten festen Merkmalen, sondern als subjektive Erfahrung. Mit seiner Ausstellung des Kunstmuseum St.Gallen konstruiert er einen eigenen landschaftlichen Assoziationsraum und überschreibt ihn mit einem Ausspruch des Astronauten Charles «Pete» Conrad Jr.: «That’s a God-forsaken place; but it’s beautiful, isn’t it?» – was 1969 für den Mond galt, gilt nun für die Lokremise.

36° 25′ 12″ N 116° 48′ 40″ W: Am Ort mit diesen Koordinaten fotografieren die Einen eine markante geologische Formation. Die Anderen wandeln auf Michelangelo Antonionis Spuren und manche denken wohl auch an Michel Foucault, der hier mit Simeon Wade zwei Tage mit Musik und LSD verbrachte. Zabriskie Point. Der Ort beinhaltet das alles und bietet doch nicht viel: Als Olaf Nicolai im Jahr 2008 dorthin reiste, war er überrascht, dass Zabriskie Point wenig mehr ist, als ein Aussichtspunkt mit Parkplatz und mit einem Verbot, den Nationalpark an dieser Stelle zu betreten. Der Künstler kehrte also nachts zurück. Ohne Taschenlampe, aber mit Fotoapparat. Er blitzte sich Schritt für Schritt mit der Kamera seinen Weg und sah dort, wo tagsüber unzählige Aufnahmen der spektakulären Naturkulisse entstehen, für Sekundenbruchteile immer wieder nur Sand, Steinchen, Gestrüpp: «Es war ein merkwürdiges Moment, so zwischen Raum und Zeit unterwegs zu sein. Es war ein wenig so wie unter Wasser.» – und vielleicht auch ein wenig so, wie sich Wade und Foucault gefühlt haben werden.

Sehgewohnheiten sehen

Die Fotografien entstanden zunächst nur als Nebeneffekt des einstündigen Spazierganges. Erst später stellte sie Olaf Nicolai als Serie zusammen. Obwohl jede Aufnahme nur Quadratzentimeter des kargen Bodens unter nächtlichem Schwarz zeigt, mutet sie wie ein vollständiges Landschaftsbild an. Damit vedeutlicht die Serie ein bekanntes Phänomen: Die Wahrnehmung einer Landschaft gleicht sich mit der Zeit und mit der steigenden Zahl von Abbildungen den Bildern dieser Landschaft an.

Solche Prozesse interessieren Olaf Nicolai, aber er arbeitet nicht daran, sie zu kritisieren, sondern sie bewusst zu machen: «Es geht darum zu sehen, und nicht darum zu glauben zu sehen. Es geht darum, präzise zu beschreiben, was zu sehen ist. Ich breche keine Sehgewohnheiten, ich will, dass man die Sehgewohnheiten sieht.»

Die Nachtaufnahmen von Zabriskie Point bilden den inhaltlich und formal passend gesetzten Auftakt zu Olaf Nicolais St. Galler Ausstellung. Der Künstler fasst in ihr wichtige Aspekte seiner Arbeit zusammen, und fast wie nebenbei gelingt es ihm, das sperrige Kreissegment der Lokremise in ein grossartiges Raumkontinuum zu verwandeln dank seines persönlichen Interesses und seiner konzeptuellen Herangehensweise: «Ich brauchte etwas, das mich bewegt und beschäftigt. Lange schon wollte ich eine Wanderdüne installieren.» – ein Gebilde also, das in sich homogen ist, das in Bewegung ist, aber doch langlebig, und das Spuren speichern kann; der Spezialtypus einer Landschaft.

Bilder formen Erinnerungen

Sand ist geduldig. Sand ist anziehend. Wie sonst ist es zu erklären, dass in Grossstädten sogenannte City Beaches aufgeschüttet werden, um die Illusion eines Meeresstrandes zu vermitteln? Mit ein paar Lastwagenladungen Sand konstruieren sie das Bild einer Landschaft und ihrer Konnotationen angefangen von der Exotik und das Abenteuer des Reisens bis hin zu irdischen Paradiesen. Die Vorstellungskraft, genährt durch die tausendfach präsenten Bilder, lässt den künstlichen Strand plausibel erscheinen. Sie wirkt auch in der Lokremise, wenngleich die dort aufgeschütteten 200 Tonnen Sand weniger an einen Stadtstrand als vielmehr an eine Mondlandschaft erinnern.

Erinnern? Einmal mehr formen Bilder die Erinnerungen. Den Mond muss niemand selbst gesehen haben, um sich das Aussehen seiner Oberfläche ins Gedächtnis rufen zu können. Die omnipräsenten Bilder sorgen aber nicht nur für vermeintliches Wissen, sondern auch für Zweifel, können doch Fakten inszeniert und Bilder manipuliert werden: «Verschwörungstheorien zeigen den Stand der Medienentwicklung an, weil sie einen medialen Standard voraussetzen. Sie sind ein Indikator für das Potential medialer Imagination: 1969 war es bereits möglich, eine Mondlandung im Studio zu inszenieren. Ausserdem zeigen Verschwörungstheorien, was für möglich gehalten wird. Sie geben sich den Anschein der Wissenschaftlichkeit.»

Schwebezustand im Sand

Wie so eine Inszenierung funktioniert, wie sie zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung schwebt und wie sie wissensunabhängig auf die Sinne einwirkt, ist in der Installation sehr anschaulich. Der Sand bedeckt den Boden von Wand zu Wand. An manchen Stellen ist er zu kleinen Kratern aufgeschichtet, an anderen führen Trampelpfade durch die Erhebungen. Die Fenster sind verdunkelt, UV-Licht ist auf Wände mit fluoreszierender Farbe gerichtet. Diese Farbe speichert das Licht, aber auch die Subtraktion von Licht: Schattenwürfe halten sich für einige Sekunden. Die Lichtsituation verunklärt den Raum und verschleiert die Zeitlichkeit. Unwillkürlich greift die Hand in den Sand. Immerhin, er ist haptisch und intellektuell zu fassen. Aber Nicolai bieten noch einen zweiten Anker: Am Eingang zur Ausstellung liegt ein Bruchstück eines Eisenmeteoriten aus dem Asteroidengürtel bereit. Es darf in die Ausstellungen mitgenommen werden und sorgt für einen handfesten Sinneseindruck – ausgerechnet dieses ausserirdische Detail.

Diese starken und immer wieder auch überraschenden Bezüge gibt es bei Nicolai nicht nur zwischen All und Erde, sondern auch zwischen Lokremise und Kunstmuseum und den drei gleichzeitig stattfindenden Ausstellungen in St. Gallen, Wien und Bielefeld. Der Künstler muss sie nicht einmal suchen, sondern nur auf die Dinge selbst vertrauen: «Formen sind intelligenter als Du. Wenn Du formal präzise bist, entstehen diese Beziehungen. Die Logik der Form ist nicht zu hintergehen.»

Dreimal Eins

In Bielefeld sind Werke aus 23 Jahren zu sehen, die vieles gemeinsam haben: «Ich arbeite mit Fassaden, Vitrinen, Glas, Spiegeln. Sie alle markieren Grenzen.» Das Glas wiederum findet sich in St. Gallen im Kunstmuseum in der Arbeit «Echo». In Tropfenform und mit einem Gesamtvolumen dem des Körpers von Nicolai entsprechend, bedeckt es den Boden des historischen Ausstellungssaales. Die Tropfen verbinden sich nicht nur mit Märtyrertränen und Wasserfällen in Altmeistergemälden, sondern bilden den Kontrast zur Wüste in der Lokremise wie auch den Verweis nach Wien, wo in der Kunsthalle eine in sich geschlossene Kette von Glasperlen der Raumkante folgt. Ansonsten ist die Ausstellung in Österreich performativ und als offene Struktur angelegt.

Bielefeld, St. Gallen, Wien – jede der drei Ausstellungen funktioniert eigenständig, aber gemeinsam formen sie ein grosses Ganzes: «Wer alle drei Ausstellungen gesehen hat, weiss mehr über meine Arbeit als ich selbst.»

Zitate: Gespräch mit dem Künstler am 5. Juli 2018