Der Baum als Linie

by Kristin Schmidt

Die Kunsthalle Arbon und Simon Ledergerbers Baumobjekt sind beide sind Abbild ihrer Vergangenheit. Die sichtbare Industriegeschichte verbindet sich in der Ausstellung „Vom Wesen der Dinge“ mit Kunst und organischen Prozessen.

Die Kunsthalle Arbon besitzt den eigenständigen Charakter funktionaler,  gealterter Industriearchitektur. Hallendach und Tragkonstruktion sind an vielen Stellen mit Rostfarbe ausgebessert, die Wände dunkelgrau gestrichen. Der Asphaltboden ist an vielen Stellen porös und von Farbspuren durchsetzt. Einzig eine seitlich versetzte Säulenreihe unterteilt die grosse Fläche.

Diesen Raum adäquat zu bespielen, verlangt Selbstbewusstsein und ein Gespür für Materialien und Proportionen gleichermassen. Simon Ledergerber besitzt beides. Mit grosser Geste schreibt er in die Fabrikationshalle eine Linie. Sie steht nicht nur formal im Kontrast zu allem, was sie hier umgibt, sondern auch materiell: Die Linie ist aus hellem Holz. Einst war sie ein Baum mitten im Wald. Bis sie von Simon Ledergerber entdeckt wurde. Der Künstler aus Zürich suchte nach einem geeigneten Baum für ein Objekt. Er hatte die Ausstellungseinladung nach Arbon erhalten und wusste, jetzt darf es etwas Grosses sein. Zugleich gab es Rahmenbedingungen: Lage und Ort des Baumes mussten es ermöglichen, ihn aus dem Wald abzutransportieren. Die Länge des Stammes musste stimmen wie auch die gesamte Gestalt des Baumes. Gefällt werden durfte er nicht, das hätte Stamm und Wurzel voneinander getrennt. Ein Sturm kam dem Künstler zu Hilfe. Dann begann die Arbeit direkt im Wald. Simon Ledergerber entfernte Rinde und Äste, aber nur so weit, dass die Hauptwuchslinien erhalten blieben. Die Wurzel reduzierte er auf einen Arm. Dies erforderte bereits künstlerische Entscheidungen: „Wie stark will ich eingreifen? Welche Linien will ich gewichten? Wie soll die Spannung vom Boden nach oben geführt werden?“

So lag nach knapp drei Wochen statt einer Pflanze die helle Linie im Wald. Die Feinarbeit folgte dann in Ledergerbers Atelier in Biel. Zudem begann der Baum zu trocknen, Risse brachen auf, das Material arbeitete weiter. Diese Prozesse interessieren Ledergerber besonders und er untersucht sie auch in seinen grafischen Arbeiten. Hier bringt er Eisen auf eichenholzgegerbtes Papier, mischt Pflanzensäfte, Tusche und Petroleum, streut Eisenstaub in eine Essig-Wasser-Lösung. Die Ergebnisse sind kaum vorherzuzusehen, aber in jedem Falle bilden die Blätter die Dynamik der Vorgänge ab. Verborgen bleiben sie hingegen beim wassergefüllten Eisenkubus. Irgendwann wird sich das Wasser durchgearbeitet haben. Bis dahin jedoch  ist die verhüllte chemische Reaktion im geometrischen Körper das perfekte Gegenstück zur herausgeschälten organischen Form der Tanne.