Körperansichten

by Kristin Schmidt

Herbert Hoffmanns Aufnahmen tätowierter Menschen liefern das umfassende Bild einer Subkultur. Aber war Hoffmann deswegen ein Künstler? Die Kunst Halle Sankt Gallen unterläuft gängige Ausstellungskonventionen und lässt Hoffmanns Arbeiten auf die Werke von vier Künstlerinnen treffen.

Das Internet ist voll davon: Aufnahmen tätowierter Körperteile. Sie werben für die omnipräsenten Tattoostudios, dienen als Motivkatalog und sprechen vom Mitteilungsbedürfnis der Tattooträgerinnen und -träger. Zwar beschränkt sich die Tätowierfotografie auf Ausschnitte, aber reale tattoobedeckte Körper werden heute selbstverständlich und nahezu überall öffentlich gezeigt. Früher, zu Herbert Hoffmanns aktiver Zeit als Tätowierer war es andersherum: Die Körper blieben in der Öffentlichkeit bedeckt, aber tätowierte Menschen zogen sich stolz für Ganzkörperfotos aus.

Hoffmann (1919–2010) führte viele Jahre die älteste Tätowierstube in Hamburg St. Pauli. Seit langem und über die Szene hinaus gilt er als Kultfigur, als Tätowierlegende. Viel zu diesem Ruf beigetragen haben nicht nur seine Tattoos, sondern auch die Schwarzweissfotografien. Über einen Zeitraum von 30 Jahren fotografierte Hoffmann 400 Tätowierte, geboren zwischen 1878 und 1952. Nun widmet ihm die Kunst Halle Sankt Gallen die bisher umfassendste museale Ausstellung mit mehr als hundert Werken, darunter nie zuvor gezeigte Arbeiten und Dokumente. Ein Anlass für diese Schau ist der regionale Bezug des Tätowierers: Er lebte seine letzten drei Jahrzehnte in Heiden, AR. Ein anderer ist die Frage nach dem Selbstverständnis: Hat Hofmann seine Fotografien als Dokumentationen verstanden oder als Porträts? Kommt es auf dieses Selbstverständnis an, um die Bilder im Kunstkontext zu verorten? Antworten gibt die Ausstellung bewusst nicht, sondern umgeht Festschreibungen mit einer parallelen Ausstellung der Werke vierer Künstlerinnen: Auf diese Weise werden, statt Qualitäts- oder Genrefragen gegeneinander auszuspielen, inhaltliche Verwandtschaften ausgelotet.

Louisa Gagliardi (*1989), Ebecho Muslimova, (*1984), Anna Uddenberg (*1982), und Tabita Rezaire (*1989) behandeln den Körper als Projektionsfläche und Transformationsobjekt. Weibliche Geschlechtsorgane werden als Ornament inszeniert und bis ins Groteske getriebene Selbstdarstellung begegnet kitschig überhöhter Bildästhetik, die durch die Eurovision Song Contests längst massenmedientauglich ist. Den spannendsten Beitrag liefern Uddenbergs suggestive Plastiken. Kratzbaum, Treppenlift, Massagestuhl oder doch erotisches Möbel – das Hacking von Alltagsgegenständen und -materialien ist hier ein lustvolles Spiel mit den Extremen.