Laokoons Schlange

by Kristin Schmidt

Die aktuelle Ausstellung in Katharinen zeigt neue Arbeiten des St. Galler Künstlers Bernard Tagwerker. Dicht verschlungene Kunststoffobjekte sind das Produkt einer neuen computergesteuerten Verfahrensweise.

Der erste Eindruck täuscht. Gebrochenes, aber makelloses Weiss, leicht kristallinwirkende Oberflächen, sanfter Schimmer. Und doch bearbeitet Bernard Tagwerker keinen Marmor. Der St. Galler Künstler zeigt in Katharinen aktuelle Arbeiten – aus Kunststoff. Neben der Materialästhetik gibt es einen weiteren Grund, warum dem Betrachter spontan der seit der Antike beliebte Bildhauerstein in den Sinn kommt: Es ist die Erinnerung an die Kunstgeschichte selbst, die einem hier Streiche spielt.

Dort, das könnte doch Laokoons Schlange en miniature sein, nachdem sie den Priester und seine Söhne erwürgte. Jene Verschlingung wirkt wie die Weiterführung von Max Bills Endlosschleife – wären da nicht plötzlich Endstücke zu sehen. Dann wiederum fühlt man sich an die Raumschleifen Georges Vantongerloos erinnert. Plötzlich wird es profan, der Betrachter scheint eine Handvoll Spaghetti vor sich zu haben. Doch all diese Wege führen in die Irre, denn Bernard Tagwerker geht mit seinen Objekten völlig neue Wege.

Seit zwanzig Jahren ist der Künstler einem neuen Verfahren der computergesteuerten Kunststoffverarbeitung auf der Spur. Wem Stichworte wie «Bézier-Spine», «Rapid-Prototyping» und «Laser-Sintering» wenig sagen, dem erklärt Tagwerker sehr anschaulich den Herstellungsprozess, angefangen von der Entwicklung eines dreidimensionalen Computerbildes über die rechnerische Umsetzung in ein Modell bis hin zum Laborbetrieb, wo das Objekt mittels Laser aus mikrometerfeinen Kunststoffschichten aufgebaut wird. Seit langem schon zeigt sich der Künstler immer wieder interessiert an innovativen Techniken und neuen Materialien.

Im Laser-Sintering hat Tagwerker ein Verfahren gefunden, das sowohl seiner Faszination am Zufall wie auch seinen ästhetischen Ansprüchen genügt. Der Künstler legt als Auslöser des Prozesses die Rahmenbedingungen fest, dann ist weiteres Eingreifen nicht mehr nötig, denn den Rest erledigt der Computer. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts begeistert die natürliche Ästhetik des Zufalls die Künstler. Auch dem Reiz der Tagwerker’schen Objekte kann man sich nicht entziehen. Mal ist das Gewirr aus Kunststoffbahnen so dicht, dass keine Durchblicke möglich sind. Dann wieder legen sich nur wenige Bänder lose umeinander oder fahren weit in den Raum hinein. So oder so lohnt es sich, die Objekte aus wechselnden Perspektiven, ja sogar aus der Bewegung heraus zu betrachten.

Schattenspiele, Ein- und Ausblicke gibt es schier unendliche. Aus Augenhöhe, vor der gegenüberliegenden Wand gesehen, beginnen die Verschlingungen beinahe zu leuchten. Mal scheinen sie geradezu über dem Untergrund zu schweben, wirken fragil und zart, mal lasten sie schwer und fest auf dem Tisch. Auch dieser lohnt einen aufmerksamen Blick. Tagwerker begegnet der besonderen Herausforderung, die der Saal in Katharinen für jeden dort ausstellenden Künstler bedeutet, mit einer sehr reduzierten und doch gerade deshalb besonders gelungenen Präsentationsform. Ein mehrteiliger, langgestreckter Tisch besetzt den Raum mittig. Er ist helllackiert und wieder angeschliffen. So schafft Tagwerker eine unregelmässig gefärbte und trotzdem glatte, reflektierende Basis. Sie steht im lebendigen Kontrast zu den Schleifen und bringt deren Dynamik wie auch ihre makellose Oberfläche zu besonderer Geltung.