Gegen die Fleischblindheit

by Kristin Schmidt

Zu den Abbildungen von Francisco Sierras Zeichnungsserie „Fleisch“

Fleisch ist Massenware. Küchenfertig zerteilt, stückweise abgepackt, konserviert, von den Grossverteilern zu Spottpreisen angeboten. Was einst Leben war, wird zum günstigen Kilopreis auf Plakaten und in Anzeigezeitschriften angepriesen: „Kauft Leute, kauft!“ – oder seht genauer hin. So wie Francisco Sierra. Der 1977 in Chile geborene und in Herisau und St.Gallen aufgewachsene Künstler hat die Fleischwerbung studiert und die Fotografien hinter den Preisschildern: Welche Bilder werden verwendet? Wie werden sie präsentiert? Wie wirken die Bilder auf die Konsumentinnen und Konsumenten? Wirken sie überhaupt noch? Die Reklameabbildungen sind geglättet, entfremdet, saftig rot eingefärbt. Oft tauchen sie mehrmals auf und werden bei der nächsten Rabattaktion nur gespiegelt. Manchmal nicht einmal das. Die Vergesslichkeit der Angesprochenen ist gross. Ist doch alles Wurst. Oder Fleisch.

Und dann plötzlich das: ein Stück Fleisch, eine Wurst isoliert auf weissem Grund – ohne Preisetikett, ohne Bezeichnung, ohne Supermarktlogo. Nur Muskeln, Blut, Sehnen und Fettstreifen: Francisco Sierra hat die Fleischstücke mit dem Buntstift detailgetreu wiedergegeben, reduziert auf das Eigentliche, in der exakten Manier wissenschaftlicher Zeichnungen. Dort, wo das Preisetikett prangte, hat er die Fleischzeichnung ergänzt. Nichts lenkt ab von der Präsenz des Organischen. Das Fleisch ist nicht mehr Ware, sondern wieder Fleisch und reiht sich damit einerseits in eine lange kunsthistorische Darstellungsreihe ein und eröffnet andererseits neue Reflexionsmöglichkeiten des Konsums.

Bereits in Renaissance und Barock reizte die Künstler die ambivalente Ästhetik des Fleisches, seine vielseitige Gestalt und Oberfläche wie auch die Anwesenheit der Vergänglichkeit und des Todes. Im 19. und 20. Jahrhundert werden die Schlachtstuben zum beliebten Sujet, so abstossend und doch so sinnlich – und noch so weit entfernt von der Massentierhaltung. Inzwischen ist Fleisch allzeit verfügbar und das zu Niedrigstpreisen, zusätzlich soll aus Bundesgeldern unterstützte Werbung den Konsum weiter antreiben. Dem setzt Sierra seine Zeichnungen entgegen. Mit altmeisterlicher Bravour zollt er den abgenutzten Fleischbildern neue Aufmerksamkeit. Unter seinen Händen werden all die Filetstücke, Rollbraten, Schenkel wieder kostbares Bildmaterial und funktionieren als Bausteine für den notwendigen Bewusstseinswandel.