Präzision und Rafinesse

by Kristin Schmidt

Ist Schönheit von Funktion abhängig? Oder an Material und Form gebunden? Magali Reus inszeniert ihre Objekte an der Schnittstelle von funktionaler Ästhetik und Dekorlust. Das Kunstmuseum St.Gallen zeigt mit „Night Plants“ aktuelle Arbeiten der in London lebenden Künstlerin.

Form follows function – der Gestaltungsleitsatz suggeriert Eindeutigkeit und wird doch seit mehr als 100 Jahren diskutiert. Während die Einen darin die Aufforderung lesen, die Gestaltung praktischen und ökologischen Aspekten unterzuordnen und die Form im Sinne des Weniger-ist-mehr aufs Notwendige zu reduzieren, erkennen die Anderen darin den Aufruf, in die Gestaltung auch repräsentative Elemente zu integrieren, um die Sinne zu stimulieren, Identifikationspotentiale zu wecken oder Konsumanreize zu setzen. Diese Diskussion hat immer neue Wendungen genommen und wird durch die Bildende Kunst nicht entschieden werden, aber doch um einige Argumente bereichert. Vor allem, wenn Magali Reus sich einmischt. Die Objekte der niederländische Künstlerin (*1981 Den Haag)  suggerieren Funktionalität verbunden mit höchster gestalterischer Finesse. Sie sind bis ins kleinste Detail hinein sorgsam durchgearbeitet. Keine noch so kleine oder grosse Form, kein Zentimeter Material sind zufällig platziert, aber zu welchem Zweck? Jede Niete, jeder Riemen, jedes Gewebe der Objekte im Kunstmuseum St.Gallen scheinen durch die Funktionalität bedingt zu sein. Aber die Künstlerin lässt alle Spekulationen ins Leere laufen. Die Objekte erinnern zwar an Gebrauchsgegenstände, doch mit der ausgeklügelten Materialwahl und -kombination sowie der detailversessenen Gestaltung funktionieren sie als Porträts von Situationen, Lebenshaltungen und -einstellungen. Obgleich in der Grundform verwandt, entfalten alle einen eigenen Charakter. Sie sind bequem gepolstert oder nostalgisch graviert, sie besitzen praktische Fächer oder Gurte, sie sind sandgestrahlt oder pulverbeschichtet, aus hochwertigem Kunststoff, Metall oder Leder. Ihr Dekor ist mehr als überflüssiger Zierrat und wird als ebenbürtiges Element inszeniert. Zugleich sind die Objekte eine Ode auf das Handwerk, ausgeübt von selbst- und materialbewussten Spezialisten.

In ihrer ausgetüftelten Ästhetik verbinden sich die ausgestellten Werke aufs Schönste mit dem Neorenaissanceräumen. Auch hier überlässt die Künstlerin nichts dem Zufall. Über die sorgsam platzierten Einzelobjekte hinaus entwickelt sie eine stimmige Ausstellungsinstallation, die mit der Architektur, den schlanken, grauen Doppelsäulen, ihren Kapitellen und den Durchgängen den Dialog aufnimmt und ihn bis hinein in die derzeitige Sammlungspräsentation trägt, in der passenderweise die niederländischen Landschaftsmaler zu Reus‘ Nachbarn werden.