Tine Edel – Wege zum Bild

by Kristin Schmidt

Tine Edels Wege zum Bild sind nicht standardisiert, Experimente sind Teil ihrer konzeptuellen fotografischen Arbeit.

Die Digitalfotografie ermöglicht technisch makellose Bilder. Bereits kleine Amateurkameras enthalten Programme um Verzerrungen, Rauschen oder Blitzlichteffekte zu verhindern, verbliebene Fehler können mit digitalen Bildbearbeitungsprogrammen weiter vermindert werden. Die technisch perfekte Fotografie ist jedoch eine Fotografie ohne Eigenschaften. So erklärt sich die Beliebtheit von speziellen Filtern. Sie simulieren gealterte Bilder, unvollkommene Bilder, sie täuschen Belichtungs- und Entwicklungsfehler vor, die ein Kennzeichen optischer und chemischer Vorgänge der analogen Fotografie sind. Was aber passiert bei analogen Prozessen genau? Wie lassen sie sich verändern? Wie weit lassen sie sich steuern? Wie groß ist der Spielraum zwischen gelungenem und gescheitertem Bild? Kann auch ein gescheitertes Bild ein gelungenes Bild sein?

Tine Edel experimentiert im weiten Feld analoger fotografischer Verfahren und Inszenierungen. Die Künstlerin negiert die Gesetze der tradierten Fotografie, sie arbeitet mit Mehrfachbelichtungen, lässt Fehler zu, mischt oder erhitzt Fotochemikalien, gewährt Bleichmitteln eine Eigendynamik und bringt verschieden groß Abgelichtetes zusammen in ein Format: Die Wege zum Bild sind in Tine Edels Arbeit ebenso wichtig wie die Resultate. Die Bilder sind eine Reise vom Bekannten ins Unbekannte, von Gebrauchsgegenständen und kleinen Fundstücken im Atelier hin zu mehrdeutigen Objekten im fotografischen Raum.

Alltägliche Dinge aus dem Atelier der Künstlerin, Gegenstände ohne inhaltliche Aufladung verwandeln sich in der Serie „Licht zu Papier“,  seit 2015 in etwas Anderes, ohne eine bestimmte Interpretation zu behaupten. Viel wichtiger als die Deutung der Motive ist der aufmerksame Blick für Umrisse, Texturen, Kontraste, Helligkeit und Schatten: Wie ist der Bildraum gestaltet? Wodurch entsteht Tiefe? Wodurch unterscheiden sich die Grautöne voneinander? Wie verhalten sich die Objekte zum Hintergrund? Wie verhalten sie sich zueinander? In den Schwarzweißfotografien entfaltet sich ein reiches Spektrum an Tönen, Nuancen und Texturen. Die fotografierten Objekte befinden sich aber in einem undefinierten Raum. Oft eignet ihnen eine Anmutung der Schwerelosigkeit. Optischen Halt erfahren die Dinge im Zwiegespräch miteinander. So verharrt ein  gefaltetes Tuch über der Sitzfläche eines Stuhles. Ein Wolkengebilde hängt über einer felsähnlich aufragenden Struktur. Ein textiles Gespinst strebt aus einer Glasflasche empor. Tücher, Flaschen, Spiegel, ein Holzscheit, eine Sellerieknolle, eine optische Linse – die Objekte stehen ursprünglich nicht in einer Beziehung, keines davon wird in eine andere Form gezwungen oder in seinem Aussehen manipuliert. Einzig durch die Position im Raum, durch Licht, Schatten und Anordnung, durch die Aufmerksamkeit der Fotografin erhalten die Dinge eine neue Präsenz und eine Relation zueinander.

Tine Edels Aufnahmen sind weniger Abbilder, als Bilder. Sie halten keinen bestimmten Moment fest, sondern bilden einen konzeptuell konstruierten Raum. Er ist das Ergebnis zweier situativer Inszenierungen und zweier separater Belichtungsmomente. Die Künstlerin nimmt einen Gegenstand im Atelier mit der Plattenkamera direkt auf Schwarzweißfotopapier auf. Für die Umkehrung in ein Positiv fügt die Künstlerin dem Bild eine weitere ergänzende Komponente hinzu. Neben optischen Linsen oder Textilien können dies auch Materialien wie zum Beispiel Polyesterwolle, Sand, Salz, Vaseline, oder Pappe sein.

Das Nebeneinander zu unterschiedlichen Zeitpunkten aufgenommener Dinge und die daraus entstehende geheimnisvolle Ausstrahlung der Bilder erinnert nicht von ungefähr an die Geisterfotografien William H. Mumlers (1832–1884). Tine Edel hat sich mit der sogenannten „spirit photography“  des Bostoner Autodidakten auseinandergesetzt. Er versprach in seinen fotografischen Porträts die gleichzeitige Darstellung des Geistes verstorbener Angehöriger und belichtete dafür die verwendeten Glasplatten doppelt. Tine Edel erzeugt die doppelte oder mehrfache Belichtung entweder mit einer weiteren Kameraaufnahme oder durch Fotogramme, also Gegenstände, die sich direkt auf dem Papier abzeichnen. Weder der Aufnahmeprozess noch das Ergebnis lassen sich vollständig steuern. Die Künstlerin gestattet und respektiert die Autonomie der Fotografie. Ihr geht es nicht darum, ein Objekt möglichst vollständig zu charakterisieren oder zu repräsentieren, sondern das Wesen der Fotografie zu ergründen. Ihre experimentellen und inszenatorischen Anordnungen, die chemischen und physikalischen Eingriffe verleihen den Bildern eine eigene werkimmanente Wirklichkeit.

Katalogtext anlässlich der Nominierung der Künstlerin für den 6. Marta Hoepffner-Preis für Schweiss-Fotografie 2017