Friedhöfe – Zeugen des Wandels

by Kristin Schmidt

Orte für die Toten erzählen viel über uns Lebende. Wo bestatten wir die Verstorbenen? Wo gedenken wir ihrer? Wie gestalten wir die Gräber und die Plätze der Erinnerung? Lange Zeit wurden die Toten auf Friedhöfen beerdigt, in Kollektivgräbern die einen, in der Familiengruft die anderen, für die ewige Ruhe gebettet, bald dicht umwachsen und von Baumriesen beschattet. Alte Friedhöfe sind atmosphärische Orte. Der Journalist Hanspeter Spoerri schätzt die besondere Stimmung auf historischen Friedhöfen in Wien oder Prag und denkt über das Kommen und Gehen auf hiesigen Friedhöfen nach. Reglemente limitieren die Dauer der Grabstellen, lassen inzwischen aber grösseren räumlichen und gestalterischen Freiraum. So ist die Frage nach der idealen letzten Ruhestätte nicht mehr leicht zu beantworten. Unkonventionelle Orte des Trauerns und Gedenkens bieten sich an. Die Kulturanthropologin Theres Inauen schlägt den Bogen von den Fotografien und Bildern in der Küchenecke ihrer Grossmutter bis hin zu den virtuellen Grabstätten im Internet. Sie untersucht den Wandel der Erinnerungsräume als Spiegel des gesellschaftlichen Wandels. Die ästhetischen Konsequenzen der neuen Vielfalt erlebt der Steinbildhauer und Journalist Wolfgang Steiger: Auf den Friedhöfen weichen die lokal verankerten und einem Gesamtbild verpflichteten Materialien und die von sicherer Hand ausgeführte Gestaltung beliebig austauschbaren, oft maschinell erstellten Form- und Schrifttypen. Das Streben nach Individualismus ist ebenso gross wie die Freiheit bei der Wahl des letzten Ortes. Ein Stückchen Wiese, unbesteint und unbeschriftet, ein Häufchen Asche im Wind – auch das ist möglich. Der Florist Walter Zellweger interpretiert die letzte Reise mit sich allmählich von ihren Zwiebeln entfernenden Tulpen. Am Ende steht die Auflösung alles Seienden. Friedhof und Grabmal sind nur noch ein Angebot unter vielen. Die Lebenden können selbst entscheiden.

Einleitung Thematext Obacht Kultur, No. 27 | 2017/1