Manfred Pernice – Eine Dose ist eine Dose ist eine Dose ist eine Dose

by Kristin Schmidt

Architektur oder Plastik? Modell oder Möbel? Manfred Pernice arbeitet seit 20 Jahren am Thema der Dose und unterläuft mit diesem Werktypus formale und ästhetische Kategorien ebenso wie Zeit- oder Inhaltsbezüge. Im Kunstmuseum St.Gallen erfahren die Dosen erstmals eine Familienaufstellung bis in die entferntesten Verwandtschaftslinien hinein.

Gerillt oder mit angenieteter Öffnungslasche, aus Weissblech oder Aluminium gezogen, mit Banderole oder mit Aufdruck – so kommt die Dose daher. Sie verspricht Inhalt und ist Form, sie ist Behältnis und Zylinder. Sie ist allbekannt und millionenfach gleich. Oder sie ist von Manfred Pernice. Seit über 20 Jahren baut der Künstler Dosen. Aber was genau ist eine Dose? Was braucht sie, um eine Dose zu sein? Kommt es am Ende überhaupt darauf an? Die Dose kann alles sein. Sitzgelegenheit oder Büchergestell, Turm oder Tafel. Sie lässt sich unter den Rock gucken oder zwischen die Rippen. Sie ist mobil oder aus Beton. Manfred Pernice hat der Kunst die Dose verpasst. Angefangen hatte alles mit kleinen zylindrischen Kartonplastiken. Doch anders als Architekturmodelle waren sie nicht einfach die Vorstufe für eine vergrösserte Ausführung. Gemeinsam mit Zeichnungen und hinzugefügten Gegenständen bildeten sie eigenständige Ensembles im Miniaturformat. Liess sich die formale Qualität der kleinen Kartonzylinder auch in einen grösseren Massstab übertragen? Der Künstler wechselte das Material und arbeitete mit MDF-Bauplatten. Dort, wo der Karton gefalzt war, wiesen die Platten Fugen auf.

Die grosse Dosenfamilie

Statt der glatten Haut des aus einem Stück gefertigten Metallzylinders zeigen Pernices Dosen eine gebaute Struktur und bieten einen riesigen architektonischen Spielraum, der sich vor allem dann offenbart, wenn der Künstler unterschiedliche Verwandtschaftszweige aus der Dosenfamilie ausstellt. Im Portikus in Frankrfurt am Main bestellte er ein «1a-Dosenfeld», veranstaltete im Hamburger Bahnhof in Berlin einen «Dosentreff» oder schickte sie in Hamburg auf den «Dosenweg». Im Kunstmuseum St.Gallen präsentiert Pernice nun die «2b Dosenwelt», die jedoch viel mehr ist als ein weiterer Teil des Dosenuniversums. Sie ist das Dosenuniversum selbst, vom Urknall bis in die peripheren Umlaufbahnen. Mit einer unbetitelten Arbeit aus dem Jahre 1997 ist eine der frühen Kartondosen zu sehen. Sie sitzt in diesem Falle auf einem Instantkaffeeglas: Das Glas wird zum Sockel der Dose, die Dose zum Deckel – schon hier sind die späteren Transformationen vorhanden. Zudem deuten Zeichnungen eines Lampenschirms ein Grössensystem an, das bald ausformuliert wird. Die «Signaldose ‹VT›», 1998 ist eine der ersten in neuem Massstab. Mit ihrem Umfang und ihrer Höhe wird die Dose zum Körper, zugleich werfen Titel und Farbe – ein leuchtendes Rot – die Angel aus: Der Körper wird zu dem einer Boje, einer Signaltonne auf hoher See. Im Kunstmuseum St.Gallen ist «Signaldose ‹VT›» umgeben von Dosen der frühen 200er und der letzten drei Jahre. Sie alle eint das Unperfekte, das Raue, das Improvisierte, das selbst dann noch dominiert, wenn die Dose lackiert ist.

Zeitlosigkeit versus Zeiträumlichkeit

Verblüffend ist in dieser Zusammenstellung die Zeitlosigkeit der Dosen, und dies, obwohl Pernice Zeiträume thematisiert: «Was die Objekte gemeinsam haben, ist ihr Vermögen, einen Zeitraum zu eröffnen: Dieser Raum beginnt mit dem angenommenen Entstehungszeitpunkt des Objektes und reicht in unsere Jetzt-Gegenwart. […] In vielen Fällen setze ich Objekte ein, um Wirkungen zu organisieren, die mit Materialität und Zeit-Räumlichkeit (da hinein können Texte und Bilder gestellt sein) zu tun haben. […] Aber ich verwende sie auch als Dokumente oder narrative Elemente im Verhältnis zu/mit ‹skulpturaler› Arbeit.» Die Dosen werden zum Einweckglas für vergriffene Publikationen, für Fotokopien jahrzehntealter Zeitungsausschnitte, für historisches Material vom Spielzeug bis zur Anstecknadel. Oft sind die Objekte im Inneren der Dosen verborgen, bleiben unerreichbar, geheimnisvoll und ein Feld für Spekulationen; oft sind sie aber auch an oder auf den Dosen angeordnet. Damit jongliert Pernice nicht nur mit der erzählerischen Ebene, sondern auch mit der Geste des Zeigens. Die Doppelfunktion der Dosen als Zeigendes und Gezeigtes wird dann besonders offensichtlich, wenn sie Kunst präsentieren. So entstand die Werkgruppe «Die 3. Dimension» 2000 für die Ausstellung in der Kunsthalle Hamburg. Die Dosen wurden dort als Sockel für Skulpturen von August Gaul, Mathias Göritz, Franz Xaver Messerschmidt, Man Ray und anderen verwendet. In der St. Galler Ausstellung sind auf diesen Dosen Werke von Walter Bodmer, Diogo Graf, Wolfgang Laib und Fritz Wotruba zu sehen sowie ein namenloser Keramikkopf. Kunst und Nicht-Kunst wird hierarchielos präsentiert. Zudem werden Werkgruppen weder immer gleich bestückt noch müssen sie vollständig anwesend sein, stattdessen werden sie in situativ angelegten Feldern neu kombiniert. So ersetzen neu zusammengestellte Materialien zu Bernhard Heiliger, Siegfried Krepp oder Wotruba teilweise die Persönlichkeiten oder die fehlenden Originale des «Dosentreffs» wie er ursprünglich im Hamburger Bahnhof in Berlin präsentiert wurde und schon ist die «Ersatzgruppe (Dosentreff)» geboren.

Sinn und Unsinn

Pernice nutzt Ausstellungen als offene Räume der Möglichkeiten. Er agiert als Kurator, ohne sich einer Kohärenz des Präsentierens verpflichtet zu sehen, so schreibt Pernice zum «1a – Dosenfeld» im Portikus: «Das Dosenfeld erzählt nun keine Geschichte, der man folgt, sondern stellt eine den Besucher umgebende Situation dar. Der Besucher betritt einen Unsinnzusammenhang, eine unerträgliche Zumutung von Einzelaspekten, die nur als künstlerischer Entwurf akzeptabel ist und doch potentiell einen Typus alltäglicher Wahrnehmung parallelisiert.» Pernice konfrontiert Sinnsuchende mit wohl dosierten Unsinnzusammenhängen: «Das Dosenfeld stellt einen solchen Unsinnzusammenhang dar, der vom Betrachter natürlich versuchsweise sofort in einen Sinnzusammenhang umgewandelt wird. Jede Beschäftigung des Betrachters mit einem Einzelaspekt ergibt Sinn, die Aspekte insgesamt jedoch nicht. Auf der Suche nach Sinnfälligkeit werden diese Unsinnsituationen meist nicht bemerkt, obwohl das Leben voll davon ist.“ Die „2b – Dosenwelt“ ist mit ihren laut Pernice «locker gehäkelten» Zusammenhängen diesbezüglich eine würdige Nachfolgerin des „1a – Dosenfeldes“. Und sie reicht weit darüber hinaus: Zum ersten Mal sind die Dosenmotive in einer Überblicksausstellung versammelt. Zum ersten Mal treffen Dosen aus unterschiedlichen Kontexten in neuen Konstellationen zusammen. Damit wird ihr spezifischer Ortsbezug zwar hinfällig, aber es eröffnen sich Chancen zu neuen sinnigen oder hinreissend unsinnigen Dialogen. Wer es ortsbezogen mag, geht ebenfalls nicht leer aus. Die raumgreifende Installation «Tutti» erlebt im Foyer des Kunstmuseums St. Gallen ihre sechste Reinkarnation. War sie in Salzburg, Ghent oder im Haus der Kunst in München noch mit beinahe funktionstüchtigen Zimmersegmenten ausgestattet, so ist jetzt nur die Grundstruktur verwendet. Führte «Tutti» in München auf eine eigens errichtete temporäre Plattform, die den freien Blick in die riesige Halle erlaubte, so ermöglicht die St. Galler Fassung es mit der kleinen Wendeltreppe erstmals, die üppige, neopompejanische Ornamentik auf Augenhöhe zu erleben. Einmal mehr fällt auf, dass in diesem Haus, das einst auch die naturhistorischen und kulturgeschichtlichen Sammlungen beherbergte, nur die Begriffe Skulptur, Architektur und Malerei in den Deckenschmuck eingebettet sind: Schlüssig und gewohnt humorvoll führt Pernices skulpturale, quasi-architektonische und in der Oberflächengestaltung delikat malerische Arbeit ein Zwiegespräch mit dem Vorgefundenem.