Bertrand Lavier

by Kristin Schmidt

Wie ist unser Lebensraum gestaltet? Wann nehmen wir diese Gestaltung bewusst wahr? Wo sind die Grenzen zwischen Kunst und Design? Was ist ein Original? Wodurch wird es zum Original? Welche Rolle spielen die Präsentationsformen? Lassen sich diese Fragen auf elegante, spielerische Art klären?

Bertrand Laviers Werke finden die Antworten. Der französische Künstler untersucht seit mehr als 40 Jahren unsere Wahrnehmung von Kunst und Gestaltung und deren Wechselwirkungen. Er arbeitet mit Gebrauchsgegenständen aus der industriellen Massenfertigung, mit vorgefertigten Bauteilen oder mit legendären Designobjekten. Die Gegenstände überführt er entweder unverändert in den Kunstkontext oder er setzt sie neu zusammen, überarbeitet sie mit traditionellen künstlerischen Methoden oder platziert sie auf unvorhergesehene Weise.

Lavier ist studierter Gartenbauingenieur. Als solcher kennt er die botanischen Methoden der Veredelung genau und nutzt dieses Verfahren in seiner künstlerischen Arbeit. Er spielt es in unterschiedlichen Varianten durch und enttarnt die Versuche der Hersteller von Alltagsobjekten, das Prestige der Kunst für ihre Produkte zu nutzen. Er bringt Klassifizierungen durcheinander und entzieht seine Werke gängigen Festlegungen Bertrand Lavier spielt mit Sprache und Bedeutung, er überschreitet Gattungsgrenzen, stellt festgeschriebene Begriffe und Interpretationsmuster in Frage und inszeniert Paradoxien. Seine Werkgruppen bezeichnet er als «Baustellen» («chantiers»), da sie Teil eines offenen Arbeitsprozesses bleiben.

Die Ausstellung, kuratiert von Friedemann Malsch, ist in enger Zusammenarbeit mit Bertrand Lavier entstanden. Sie umfasst Beispiele aus allen Werkgruppen des Künstlers, angefangen von typischen Werken der 1970er Jahre bis hin zu eigens für die Schau entstandenen neuen Arbeiten. Damit deckt die Ausstellung das gesamte Spektrum seines Schaffens ab.

Raum 1: Bildgründe

«Die Malerei scheint mir umso besser, je mehr sie der Skulptur ähnelt, und die Skulptur umso schlechter, je mehr sie der Malerei ähnelt. Die Skulptur ist die Fackel der Malerei, und zwischen ihnen besteht der gleiche Unterschied wie zwischen der Sonne und dem Mond.», Michaelangelo Buonarroti (1475–1564)

Wem gebührt die Vorherrschaft? Der Bildhauerei oder der Malerei? Der Disput um die Überlegenheit der einen oder der anderen Gattung gehört zu einem der spannendsten Fortsetzungsromane der Kunstgeschichte. Bertrand Lavier löst ihn mit einigen Pinselstrichen auf: Er bedeckt alltägliche Gegenstände mit einer dicken, pastos aufgetragenen Schicht Acrylfarbe. Die gewählten Objekte – ein ganzes Wohnensemble – werden zum Bildträger. Sie behalten dabei ihre räumliche Präsenz und bleiben Industrieprodukt. Gleichzeitig werden sie Motivation für einen künstlerischen Prozess und materielle Grundlage für Malerei. Es ist Objekt, Malerei und Plastik zugleich. Lavier übermalt die Produkte nicht einfach mit einem lapidaren Neuanstrich, sondern behandelt deren Oberfläche mit der «Touche van Gogh». Touche kommt von toucher und heisst berühren. Bertrand Lavier berührt die Oberflächen. Der schwarzglänzende Lack des Flügels, das Blau und Gold der Kommode, die Farben des Tisches und die pflegeleichte, weisse Haut des Kühlschranks sind das Motiv seiner Malerei.

Es ist kaum ein Zufall, dass der Gartenbauingenieur eine Pflanze für eine seiner ersten Arbeiten und die erste Übermalung auswählt. «Premier travaux de peinture», 1969, zeigt eine weiss übermalte Blattreihe der Scheinrebe, lat. Ampelopsis. Die künstlerische Geste wird zum ordnenden Eingriff. Sie eignet sich das Vorgefundene an, ohne es dem ursprünglichen Kontext zu entziehen. Diese Dualität bestimmt auch Bertrand Laviers spätere Übermalungen: Immer bleiben die Gegenstände funktionsfähig, dienen also nicht nur der Repräsentation. Die Farbe ist zudem identisch mit der Originalfarbe, so sind bei «Camudo», 2015, selbst die Beschläge übermalt. Wo also ist der Unterschied von Farbe und Farbe? Er lässt sich in den französischen oder englischen Bezeichnungen von Farbe besser fassen: Der Unterschied von coleur oder colour und peinture oder paint ist derjenige von Farbton und Farbmaterie. Die «Touche van Gogh» feiern die Farbmaterie und den künstlerischen Gestus. «Mandarine Duco et Ripolin», 1994 und «Bleu Azur par Tollens et Ducolac», 1988 konzentrieren sich hingegen auf die Vielfalt der Farbtöne, deren Bezeichnung und industrielle Nutzung. In beiden Diptychen verwendet Lavier jeweils einen Farbton von zwei unterschiedlichen Herstellern und zeigt wie willkürlich Bezeichnungen sind und wie unterschiedlich die Wahrnehmung von Farbe ist. Mandarine ist nicht gleich Mandarine.

«Sombernon», 2015, und «Composition n°1», 1986, gehören zu den «Touche van Gogh» mit zweidimensionalen Ausgangsobjekten. Beides sind Strassenschilder, das eine ist ein touristisches Hinweisschild, das andere weist auf eine Sackgasse hin. Die Originaltafeln sind mit Van Goghschem Gestus übermalt. Lavier zeigt sich damit vom Problem der Motivfindung und der Komposition erlöst und erschafft dennoch Gemälde. Obendrein demonstriert er seine Freiheit in der Motivwahl, da die Schilder aus einem grossen Reservoir von Möglichkeiten stammen.

Dieses Vorgehen funktioniert auch für ungegenständliche Arbeiten: «Melker 7», 2005, ist ein übermalter handelsüblicher Polsterstoff und eine humorvolle Neuinterpretation der Konkreten Kunst. Letztere benötigt zwar kein Sujet, ist aber dennoch komponiert – so wie der Stoff gestaltet ist.

«Landscape Painting and Beyond No.3», 1980, kann als kleine Lektion des Künstlers verstanden werden: Wie gelange ich vom Ausgangsmaterial zum Kunstwerk? In einem analytischen, aber auch didaktischen Vorgehen verwandelt Lavier eine Fotografie in drei Schritten zu einem Gemälde. Zugleich ist das Werk ein geistreicher Kommentar zum Verhältnis der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie zur Malerei: Es lässt sich in beide Richtungen lesen, hier gebührt keiner Gattung das Vorrecht.

Raum 2: 2D – 3D

Das Spiel zwischen Skulptur und Bild sowie zwischen Industrieobjekt und Kunstwerk kulminiert in «Picasso outremer», 2009. Die französische Automobilmarke Citroën bietet in mehreren Typreihen ein Modell «Picasso» an. Die Signatur Picassos prangt in gestanztem Chromstahl auf dem Kotflügel der Fahrzeuge – die Rechte dafür hat der Autokonzern den Nachfahren des Künstlers abgekauft. Bertrand Lavier enttarnt diese Fetischisierung der Signatur: «Das ‹Picasso›-Modell ist nicht besonders interessant, auch wenn es sich gut verkauft. Der Name funktioniert nur, weil er ein durchschnittliches Auto schmückt. Hätten sie ‹Picasso› auf einen Ferrari oder Rolls Royce platziert, wäre der Bestechungsversuch ins Leere gelaufen.» Lavier überführt den Picasso-Kotflügel auf mehrfache Weise zurück in den Kunstkontext. Er bemalt ihn im Stil der «Touche van Gogh» und verwendet dafür Yves Klein Blau. Yves Klein beanspruchte für sich 1946 den Himmel signiert zu haben. 1960 liess er sich Ultramarinblau unter der Bezeichnung «International Klein Blue» patentieren und überzog damit Alltagsgegenstände und Gipsabgüsse bekannter Skulpturen. Diese Aneignungsgeste eignet sich nun wiederum Lavier an. Er bemalt den blauen Kotflügel erneut mit Blau. Somit treffen sich in dieser Arbeit Picasso, Yves Klein, Bertrand Lavier und Vincent Van Gogh.

In «Clareo», 2014 begegnen sich Kasimir Malewitsch und die Minimal Art. Das Quadrat ist ebenso eine Ikone der Kunst wie die Verwendung industriell hergestellter Leuchten in der Minimal Art. Bertrand Lavier zitiert beide Vorbilder nicht wörtlich, sondern antwortet ihnen in seiner eigenen, durch heutige Gestaltung geprägten Formensprache. Immer wieder lotet er das Potential dieser Formen für die Kunst aus: «Relief peinture No. 1», 1987 ist ein vorfabriziertes Fassadenelement und untersucht die Bildqualität der Industrieware. «Relief peinture No. 2», 1991 ist eine Fotografie eines Fassadenelementes und liefert die Beweisführung: Die Aufnahme der Fassade steht gleichberechtigt neben der Fassade selbst. Der künstlerische Akt besteht im Auswählen des Fragmentes, in dessen Präsentation und Benennung.  Lavier unterwandert gängige Klassifizierungen wie Malerei, Relief, Objekt, Ready Made oder Fotografie und befreit sich einmal mehr selbstbewusst vom künstlerischen Zwang, eine Komposition entwickeln zu müssen.

«Photo Relief n°2», 1989 basiert auf einer Fotografie des Eiffelturmes. Lavier hat eine historische Aufnahme der Stahlkonstruktion zurückübersetzt in eine dreidimensionale Struktur. Sie besitzt in seiner rechteckig begrenzten Gestalt vor weisser Wand ebenso grafische Qualität wie die überlagerten Netze von «Tennis/Volleyball», 1988. Das übereinander geschobene Raster beginnt vor den Augen zu flirren, die schwarzen Linien bilden eine eigenständige, zweilagige Zeichnung  – ein kleiner Eingriff entfaltet grosse optische und räumliche Wirkung. Aufgrund der Addition der zwei Ausgangsobjekte kann dieses Werk bereits den «Superpositions» zugeordnet werden.

Mit diesen Übereinanderstellungen kombiniert Bertrand Lavier jeweils zwei Objekte miteinander. Formale Entsprechungen und Kontraste, funktionale Widersprüche und Sprachwitz vereinen sich in dieser Werkgruppe auf immer wieder neue Art und Weise. So reizt die dekorative Gestaltung des Möbels in «Husquarna/Art déco», 2012, und die Platzierung an der Wand es als ein Relief anzusehen. Die kompromisslos arbeitstaugliche Gestaltung des darüber platzierten Laubsaugers kontrastiert mit der Oberflächenwirkung des Art déco-Designs. Zudem unterwandert Lavier die wohlgefällige Kunstbetrachtung mit Untertönen: Unwillkürlich schleicht sich die Erinnerung an das unschöne Geräusch des Laubsaugens ein.

Raum 3: Objektskulptur

Ein Sofa auf einer Kühltruhe, ein Kühlschrank auf einem Tresor, ein Sessel auf einem Grafikschrank – die «Superpositions» bestehen immer aus einer Addition. Ein Gebrauchs- oder Einrichtungsgegenstand trägt den jeweils anderen. Dabei geht es weniger um eine Hierarchie im Sinne von Sockel und Plastik, als vielmehr um eine gleichberechtigte Verbindung. Die Additionen dienen keiner Funktion, sondern schlagen Möglichkeiten vor und stossen Denkprozesse an: Was haben Pflugschar und Kühlschrank in «H/Zanussi», 1988, gemeinsam? Wie wirken Farbe, Volumen, Gestalt miteinander? Gibt es formale oder inhaltliche Bezüge zu herkömmlichen Plastiken? In welchem Verhältnis steht diese «Superposition» zu anderen Werken im Raum? Beispielsweise besitzen Kühlschrank und Tresor von «Miele/Fichet-Bauche», 1984, eine grosse formale Nähe. Kühltruhe und Sofa der Arbeit «La Bocca/Bosch», 2005, hingegen sind zwar ähnlich gross, aber kontrastieren farblich, formal, stofflich und sinnlich stark miteinander. Dafür fällt im Titel der Arbeit eine verblüffende Nähe der Bezeichnungen auf. In «Sans titre», 2012, verzichtet Bertrand Lavier auf die Nennung der Objekte im Titel, obgleich die «Superposition» suggeriert, dass es sich um eine Skulptur von Calder auf einem Calder-Heizkörper handelt. Oder doch nicht? Ist der obere Calder ein Lavier?

Die meisten Objekte mit denen Lavier arbeitet entstammen der zeitgenössischen Produktion. Ganz anders bei «5/9», 1985: Ölfass und antikes Säulenfragment sind trotz ihrer grossen formalen Nähe, die durch die Farbgebung noch unterstützt wird, zeitlich weit entfernt voneinander einzuordnen.

In «Ferrari/Zanussi», 1992, überlagern sich nicht nur die Objekte, sondern auch Bertrand Laviers «chantiers». Auf einem Kühlschrank ist der Kotflügel eines Unfallwagens platziert: ein unbeabsichtigt verformtes Karosseriestück auf einem in sich geschlossenen geometrischen Körper. Lavier, Freund schneller Autos, hat in einer anderen Werkgruppe komplette Unfallfahrzeuge verwendet, beispielsweise «Mobymatic», 1993 – ein himmelblaues Mofa mit fast rechtwinklig abgeknicktem Hinterrad. Der Künstler richtet die Aufmerksamkeit auf die skulpturalen Qualitäten der Deformation. Es geht ihm nie um das Drama des Unfalls, sondern um die Gestalt des Objektes. So verwendet er ausschliesslich Unfallfahrzeuge, deren Lenkerinnen und Lenker oder Insassen nicht verletzt wurden. Und doch besitzt jedes Werk dieser Gruppe eine emotionale Komponente: Es sind Fahrzeuge, die Kultstatus geniessen, die mit Sehnsüchten oder Erinnerungen verbunden sind.

Emotionale Aufladung zeichnet auch die auf metallenen Präsentationsstangen platzierten Werke aus: «Aria pro II», 1995, «Nikki», 2015, und «California pro», 1995. Über «Teddy» sagt Lavier: «Wenn ich einen Teddy auf einem Sockel platziere, arbeite ich auf der Basis einer Skulptur und verwende zugleich ein spezifisches Objekt – in diesem Falle ein emotional aufgeladenes Objekt. Ich denke sozusagen stets über diese beiden Aspekte nach.» Das Gleiche gilt für die E-Gitarre und das Skateboard. Es sind Gegenstände, die Kultstatus geniessen und die im Gegensatz zu den «Superpositions» Gebrauchsspuren aufweisen: Sie wurden begehrt, sie wurden geliebt, sie wurden gebraucht. Aber Lavier schafft dennoch eine Distanz – er montiert sie auf Haltestangen, die üblicherweise verwendet werden, um einen Rundumblick auf dreidimensionale Objekte zu gewährleisten und deren Wertigkeit zu bekräftigen. Lavier hebt die Massenprodukte mit dieser Präsentationsform aus der Menge heraus und betont zugleich ihren anonymen Warencharakter. Auch «Black Decker», 2008, ist auf diese Weise ausgestellt und oszilliert zwischen Massenprodukt und Einzigkartigkeit.

Raum 4: Übertragung

«Supermarkt und Museum inspirieren mich gleichermassen.», Bertrand Lavier

Die Zeichner von Walt Disney Comics waren von Anfang an gut informiert. Sie kannten und kennen nicht nur ihr Zielpublikum, sondern auch die aktuellen Kunstströmungen.  Und sie waren in der Lage die Formensprache der Kunst in die Bildsprache der Comics zu übertragen. Sie kopierten die bestehende Kunst nicht, sondern adaptierten sie. Aus der Synthese der Farbfeldmalerei, des abstrakten Expressionismus und der Skulpturen Henri Moores und Hans Arps schufen sie neue, eigene Kunstwerke, die jedoch ausschliesslich als Reproduktion existierten: Sie bilden die Kulisse für ein in Heftform publiziertes Mickey Mouse-Abenteuer. Bertrand Lavier führt diese produktive Anverwandlung in seinen «Übertragungen» eine Stufe weiter und überträgt sie in die Kunst. Als handele es sich um Reproduktionen von realen Werken in realen Räumen, werden die buntflächigen Zeichnungen in «Walt Disney Productions», 1947–1985 (1947–2015), in die vermeintlichen, zuvor nie existenten Originale übersetzt und obendrein im Museum in einem eigens gestalteten Kabinett ausgestellt. Es unterscheidet sich markant von der übrigen Ausstellungssituation, wirkt aber in sich homogen: Aus der fiktiven, parodistisch übersteigerten Abenteuerwelt lässt sich ein funktionierendes, räumliches Bild konstruieren. Laviers Experiment bezeugt die Durchlässigkeit in beide Richtungen: Kunst lässt sich aus dem Comic heraus entwickeln; der Comic profitiert von der Formensprache der Modernen Kunst.

Auch die Kunst liefert Material für die Kunst. Bertrand Lavier deckt diese Bezüge in mehrfacher Hinsicht auf. Die vernickelten Bronzestatuetten «Boli», 2008, «Dayak», 2014, «Ibo», 2008, «Toko», 2008, beziehen sich auf afrikanische Holzstatuetten, wie sie von den Modernen Künstlern zu Anfang des 20. Jahrhunderts als Vorbilder entdeckt wurden. Die Künstler jener Zeit faszinierte der unverfälschte, ursprüngliche Ausdruck der afrikanischen Kunst und sie «afrikanisierten» ihre eigenen Werke. Lavier überträgt die Formensprache afrikanische Statuen direkt in Bronze, also in eine abendländische Kunsttechnik und überzieht sie mit einer als dekorativ empfundenen Nickelhaut. So entsteht die Symbiose aus einem hochwertig geltenden, tradiertem Material und dem Reiz des Exotischen wie es sonst im ethnografischen Museum repräsentiert wird. Auch die «Venus d’Amiens», 2015, erfährt eine Transformation. Lavier „überträgt“ die handtellergrosse prähistorische Venus in Lebensgrösse. Noch immer fragmentiert, aber strahlend weiss gleicht sie nun den Marmorskulpturen antiker Göttinnen und eignet sich besser für die Verehrung durch die Liebhaber des Edlen und Schönen als ein frühgeschichtliches Kleinkunstwerk.

Laviers Kunstwerke bieten zu dem, was eindeutig zu sehen ist, immer auch eine Alternative an. Damit stehen sie im Gegensatz zu den Arbeiten Frank Stellas, der für seine Werke den Anspruch erhob, «dass man die ganze Idee ohne jede Verwirrung sehen kann … Man sieht das, was man sieht.» Mit «Black Adder II», 2005, baut Bertrand Lavier eines der polygonal geformten Ölgemälde des US-amerikanischen Malers mit verschieden farbigen Neonröhren auf Holzplatten nach. Die Neonröhren sind nicht wie zuvor die Farbstreifen aufgrund einer autonomen Entscheidung platziert, sondern folgen dem Vorbild. Lavier unterläuft den Anspruch Stellas auf Eigengesetzlichkeit, löst aber dessen Anspruch auf Objekthaftigkeit der Malerei ein. Das Gemälde ist neu ein Lichtobjekt. Damit stellt Lavier eine Verbindung zu Dan Flavin her. Der Minimal-Künstler spezialisierte sich auf die Arbeit mit Leuchtstoffröhren. Das Licht seiner Werke und auch der Arbeit von Lavier strahlt über die Lichtquelle hinaus und nimmt damit mehr Raum ein als das eigentliche Objektvolumen. Wie in den «Walt Disney Productions» nimmt Lavier die vorhandene Bildidee wörtlich und spielt mit Fragen der Autorschaft. Das gilt auch für «Le Château des papes», 1991. Lavier übersetzt die pointilistische Malweise Paul Signacs in ein Mosaik und interpretiert mit seinen Mitteln die Arbeit neu, von Ferne wirkt sie noch immer wie ein pointilistisches Gemälde.

Accrochage

Für seine Ausstellung im Kunstmuseum Liechtenstein liess Bertrand Lavier fünf Werke der museumseigenen Sammlung abfilmen: Ernst Ludwig Kirchners, «Bergbach mit Steg im Wald», 1921, Alexej Jawlenskys «Stillleben», 1913, Man Rays «Portrait imaginaire d’Arcimboldo», 1953, Willem de Koonings «Untitled XVII», 1976 und Maurice de Vlamincks «Winterlandschaft mit Haus», werden als Projektionen von Gemälden in Originalgrösse gezeigt. Bertrand Lavier löst die Grenzen der Malerei auf. Er überträgt sie in bewegte Bilder und in Licht. Die ehemals physisch dauerhaft existierenden Bilder werden immaterielle Lichtbilder und erfahren durch die Lichtreflexionen und Schattenwürfe auf Objekten oder Betrachtenden neue physische Präsenz. Sie sind flach und doch auch räumlich. Sie sind temporär und doch unvergänglich, können sie doch ausgeschaltet, aber immer wiederholt werden. Sie strahlen hinein in den Raum und auf alles, was sich darin befindet. Durch Bertrand Lavier ist Farbe zu Licht geworden und Licht zu Malerei.

Besucherheft Kunstmuseum Liechtenstein, zur Ausstellung Bertrand Lavier, 23. September 2016 bis 22. Januar 2017