Chance of Serendipity

by Kristin Schmidt

Simon Starling arbeitet nach dem Serendipitätsprinzip. Er ist offen für Anregungen von aussen, verwendet vorgefundene Artefakte, bezieht sich auf natürliche oder kulturelle Gegebenheiten und überführt selbst das Reisen in seine Arbeit. Sein Referenzsystem ist dicht, aber nie erdrückend. Auf spielerische Weise setzt er neue Bezugspunkte, beispielsweise für das neue Naturmuseum St.Gallen: In seinem Kunst am Bau-Projekt bringt Starling Originalfiguren des Broderbrunnens, dem ersten und wichtigsten Monumentalwerk des Bildhauers August Bösch auf den Weg zum Bodensee. In der Lokremise St.Gallen werden die Wurzeln des Projektes im Denken und Arbeiten Starlings gezeigt.

Hoch aufgerichtet mit graziler Gestik steht die Nymphe auf dem Sockel und verabschiedet sich von ihren beiden, noch fischgeschwänzten Schwestern: „das filtrirte, gereinigte Wasser sagt den Fluthen des Sees und seinen Bewohnern Valet und stellt sich in den Dienst des menschlichen Fortschritts, einer höheren Kultur.“ So deutete J.B. Grütter den neu errichteten St.Galler Broderbrunnen im Appenzeller Kalender des Jahres 1898. Weiter heisst es, der von August Bösch Brunnen gestaltete Brunnen „versinnbildlicht das segenspendende Erlösungswerk der Wasserversorgung. Ihre Anlage selbst ruht, den Blicken verborgen, in der Erde Schooß; Aufgabe des Künstlers war es, die gewaltige That in figürlicher Weise zur Anschauung zu bringen.“ Ein sichtbares künstlerisches Zeichen also für das unsichtbare Ingenieurswerk und damit auch für die Versorgung der wachsenden Stadt mit Wasser. Für den Brunnen jedoch wurde ausgerechnet das Wasser zum Problem. Regen liess die Galvanobronze der Brunnenfiguren so stark erodieren, dass sie Ende der 1990er-Jahre durch Neugüsse aus der Kunstgiesserei St.Gallen ersetzt wurden. Die Originale wurden eingelagert im Historischen Museum und von Simon Starling wiederentdeckt – über Umwege.

Der britische Künstler war 2013 für den Kunst-am-Bau-Wettbewerb für das neue Naturmuseum eingeladen worden und begab sich wie so oft in seiner Arbeit auf die Spur spezifischer lokaler und ökologischer Gegebenheiten: „Als ich begann, über das Projekt nachzudenken, begegneten mir die Bilder des Broderbrunnens auf der Website der Kunstgiesserei – ein glücklicher Zufall, denn mich interessiert die Wendung: Die Bösch-Skulpturen sind ein Symbol für die erfolgreiche Nutzung des Wassers. Ironischerweise hat das Wasser sie zerstört. Sie sind durch den sauren Regen angegriffen worden.“

Für Zufälle und Wendungen wie diese ist Starling sehr offen. Er erlaubt seiner Kunst sich ihre eigenen Wege zu suchen, schätzt es, über Anregungen von Aussen zu stolpern und wieder weiter zu gehen: „Die Dinge finden dich. Methodisches Vorgehen ist viel weniger wichtig, als die Dinge passieren zu lassen – auf ganz verschiedene Weise: Projekte führen mich zu neuen Entdeckungen, und ich trage stets einen Rucksack halbausgearbeiteter Ideen mit mir.“ Ideen, die Starling aus bestehenden Systemen heraus entwickelt oder in der Auseinandersetzung mit der künstlerische Arbeit Anderer findet: So liess er eine Replik von Henry Moores „Krieger mit Schild“ für sechs Monate im Lake Ontario versenken. Verbreitet durch den weltweiten Schiffsverkehrs haben sich dort Wandermuscheln neue Reviere erobert und ebenso die Plastik besetzt. Die invasiven Muscheln, das britische kulturelle Erbe in den Kolonien, die Bootsreise von Moore und Muscheln, die Schalentiere auf Krieger und Schild – Starling schleust die Replik in ein lebendiges Ökosystem ein und legt damit mehrere neue Bedeutungsschichten um Moores Werk.

Starlings Kunst bildet einen Lebensraum für die Natur. Der Künstler hat beispielsweise ein Floss gebaut für eine Kolonie unerwünschter Rhododendren am Loch Lomond, Schottland, und ein Kakteenhaus mit der Abwärme eines Verbrennungsmotors beheizt. Die Symbiose von Kunst und Natur wirkt in beide Richtungen lebensunterstützend. Mit der Arbeit von August Bösch ist es nicht anders. Die drei Brunnenfiguren aus der Sockelzone der Nymphengruppe werden von Starling neu platziert und damit eingepasst in bestehende und neue Interpretationsebenen. Die durch das Wasser angegriffenen Originale werden in Vitrinen gesetzt und ihnen gegenüber wird jeweils spiegelbildlich ein Zwilling den Wasserhaushalt unter der Glashaube regulieren: „Die Figuren kehren zurück in den öffentlichen Raum in Begleitung von neu angefertigten Body Doubles. Diese zeitgenössischen Repliken werden aus drei verschiedenen hygroskopischen Materialien gefertigt. So absorbieren und speichern sie das Wasser aus der Umgebung und bewahren die Originale vor weiterem Zerfall.“ Die neuen und die originalen Plastiken sehen einander an. Und beinahe nebenbei transportieren sie sinnbildhaft die Inhalte des Naturmuseums, ist dieses doch eine „abstrakte Angelegenheit“ so Simon Starling. Es zeigt die transformierte Natur in artifizieller Umgebung. Auch der anmutige Schwanenreiter und die Wasserkinder auf Schildkröte und Fabelfisch repräsentieren Natur. Mit der neuen Aufstellung der drei Figuren erhält das Museum ein Pendant im Aussenraum – ein Museum der doppelten Originale, derjenigen von Bösch und von Starling, ein Museum mit Vitrine zwar, aber ohne Schwelle und mit einer Spur zum Wasser: „Mit den drei Elementen der Arbeit zeige ich die Achse vom Broderbrunnen über das Kunstmuseum (in dem sich derzeit noch das Naturmuseum befindet), das neue Naturmuseum in der Rorschacher Strasse bis hin zum Bodensee, der Quelle für den Broderbrunnen und die städtische Wasserversorgung.“

In der Kunstgiesserei St.Gallen wird derzeit an den hygroskopischen Zwillingen gearbeitet. Das Double des Kindes mit Fisch wird aus Holzkohle gefertigt – eine besondere Herausforderung, da ein Holzblock in Gestalt der Figuren verköhlert wird und dabei ein Drittel seines ursprünglichen Volumens verschwindet, seine finale Grösse aber derjenigen der Originalfigur entsprechen soll. Die Schwanenfigur wird in einem eigens entwickelten Gipskonglomerat verdoppelt, dafür werden Rohblöcke gegossen, getrocknet und in Form gefräst. Die Schildkröte mit ihren seltsam dreifach geknickten Beinen wird aus Silica-Kügelchen und gebundenem Kunststoffpulver im 3D-Drucker aufgebaut. Ihr Inneres wird mit Silica-Kügelchen gefüllt. Im Herbst werden sie dann mit ihren originalen Zwillingen die Doppelvitrinen beziehen.

Derzeit sind Böschs Originale in der vom Kunstmuseum St.Gallen bespielten Lokremise zu sehen. „Zum Brunnen“ nennt Starling die Ausstellung und kennzeichnet sie mit der Präposition im Titel als Station hin zum Werk im öffentlichen Raum. Während künftig den drei Bösch-Plastiken die hygroskopischen Zwillinge gegenüberstehen, sind ihnen in der Lokremise drei eigene Werke zugeordnet. Starling spielt hier mit den Elementen Erde, Wasser und Luft. Das Schildkrötenkind korrespondiert mit „Carbon ( Hiroshima )“, jenem Karbonvelo mit Nutzholz auf dem Gepäckträger und einer Kettenmotorsäge als Zusatzantrieb sowie zur Holzernte. Das klassische Baumaterial trifft auf einen modernen Werkstoff und ist gemeinsam für den multifunktionalen Einsatz bereit. Böschs Fischreiter ist neben „Project for a Floating Garden (After Little Sparta)“ platziert. Das Objekt aus schwarzen Röhren, bekrönt von einer dichten Bepflanzung, schwebt an vier Stahlseilen über dem Boden, einem hängenden Garten gleich. Es balanciert zwischen ökologischen und politischen Themen, antiker Kulturgeschichte und – in seinem Verweis auf Ian Hamilton Finlays Gartenlanlage – der neueren Kunst. Der Verweis auf das Fliegen eint Böschs Schwanenkind und Starlings Modellflugzeug in „Le Jardin Suspendu“. Auch die letztgenannte Arbeit birgt ein dichtes Gefüge von gesellschaftlichen Anspielungen und kulturhistorischen Versatzstücken. Wie so oft verwebt Starling Geschichten ineinander: „Zu jeder Arbeit gibt es verschiedene Geschichten, die einander überlagern. Auch in jeder Ausstellung, die ich mache, legen sich viele Schichten übereinander.“ Immer bewahrt sich der Künstler dabei eine spielerische Leichtigkeit. Dies zeigt sich auch in der Materialität der Werke: „Ich gehe pragmatisch vor. Die beste Arbeit ist jene, die ihre Ästhetik selbst generiert.“ Oft verwendet Starling vorgefundene Elemente, materiell ebenso wie inhaltlich. Er verflicht die Dinge, Orte, Umstände und ihre kulturellen Transformationen zu neuen Erzählungen.

Lokremise St.Gallen, bis 14. August 2016

www.kunstmuseumsg.ch