Dringlichkeit der Farbe

by Kristin Schmidt

Farbe als Farbton, Farbe als plastische Materie – Arnaldo Ricciardi arbeitet mit der Farbe in beiderlei Hinsicht. Er verwendet sie in ihrer pastosen Qualität, streicht sie mit dem Spachtel auf und wieder ab. Der physisch intensive Arbeitsprozess visualisiert sich in einer lebendigen Bildoberfläche. Ebene Partien grenzen an raue, Stellen mit dichtem Farbvolumen treffen auf solche mit durchscheinendem Farbauftrag. Mal liegt Farbe wie ein lichter Schleier über darunter befindlichen Ebenen, dann wieder verdeckt sie alle tieferen Schichten wie ein undurchdringlicher, schwerer Vorhang. Wie zum Leben auch Reibung und Hindernis, ja sogar Wunden gehören, ist auch die lebendige Oberfläche der Gemälde mit Verletzungen durchsetzt. Die Schmalseite des Spachtels hat Furchen gerissen und Grate aufgeschichtet, hat eine schorfige Kruste hinterlassen. Die Drastik dieser Gesten ist noch gesteigert, indem sie mit glatt gespachtelten Flächen kontrastieren. Mal zeichnet sich das verwendete Werkzeug in breiten Bahnen ab, mal ist es in der bewegten Haut des Bildes kaum auszumachen.

Die Bilder Arnaldo Ricciardis sind Materialereignisse, sind energetisch aufgeladene Kraftfelder. Auch mit den Farbtönen verhandelt der Künstler Kräfteverhältnisse. Grossflächig setzt er in neroterra, dialogo oder passaggio warmes, loderndes Rot ein. In anderen Gemälden ist Blau der farbliche Hauptakteur. In unterschiedlichen Helligkeitswerten, jedoch immer als reiner Ton öffnet es in punto di vista ein Fenster in den Bildraum hinein. In bluenote ist es von einem kräftigen Braun durchsetzt und an zwei Seiten eingefasst, während an der unteren Bildkante Schwarzbraun Halt verleiht, und links das Weiss einen weiten Raum eröffnet. Braun und Blau befinden sich hier in einem permanenten Wechselspiel von Anziehung und Fortstreben. In tazza grande ist helles Blau ganz an den rechten Bildrand gedrängt und entfaltet von dort seine Strahlkraft. Gelb als die dritte Primärfarbe spielt hingegen eine kleinere Rolle in der Arbeit Arnaldo Ricciardis. Es hat an Bildrändern regelmässig pointierte Auftritte, aber für grössere Flächen nutzt der Künstler einen stärkeren Kontraste zu den prägnant verwendeten Rot-, Blau- oder Schwarztönen: Intensiv, gleissend strahlt Weiss an Bildrändern auf oder dominiert das kompositorische Zentrum. Verwendet Arnaldo Ricciardi gebrochene Weisstöne so wie in grigiobianco 4 und grigiobianco 5, bringt er sie mit Grau- und Schwarzkontrasten zum Leuchten. Die oft verwendeten dunklen Töne geben Halt, rahmen hellere Flächen und verleihen den Bildern eine undurchdringliche Tiefe. Eine Besonderheit einiger der jüngsten Gemälde ist Ricciardis weitgehender Verzicht auf geschlossene Farbflächen. Exemplarisch hierfür ist raccolta. Der Duktus entfacht einen Sturm der Farben. Auch in ihm lassen sich Energiefelder feststellen, wenngleich sie eher Strömen als Flächen gleichen. Ricciardi folgt wie stets den kompositorischen Regeln in der Gewichtung des Bildganzen und seiner Teile. Jedes Bild des Künstlers verweist vollständig auf das ausgewählte und gezielt platzierte Material in eben dieser Anordnung und jedes seiner Bilder ist Ausdruck einer hohen künstlerischen Dringlichkeit.

Katalog Arnaldo Ricciardi, 2016