Miriam Sturzenegger „Woran sich halten?“, 2016 Künstlerbuch

by Kristin Schmidt

Schwarz auf weiss – was geschrieben ist, gilt. Besonders, wenn es gedruckt ist und gebunden. Buchdeckel bieten den Worten Halt, Bücher den Lesenden. Bücher versprechen Verlässlichkeit, Echtheit, Beständigkeit, ganz gleich ob es sich um Fiktion oder einen Forschungsbericht handelt. Ein Buch ist immer real. Miriam Sturzenegger spürt der Ambivalenz des Buches nach, seinen Verheissungen ebenso wie den Irrtümern, seiner Präsenz als Objekt ebenso wie seinem geistigen Raum. Die Künstlerin denkt über das Medium Buch nach, indem sie eines publiziert. „Woran sich halten?“ nennt Miriam das Künstlerbuch und siedelt es damit in dem grossen Dazwischen an: dort, wo das Pendel zwischen wahr und falsch hin und her schlägt, wo fragen gleich hinterfragen ist. Ist Wahrheit überhaupt möglich? Wie zu ihr gelangen? Der Zweifel macht die Wahrheit interessant und birgt das Potential der Behauptung. Gibt es den einen richtigen Weg? Die eine richtige Antwort?

„Woran sich halten?“ lässt sich pragmatisch auf konkrete Situationen oder Fragen beziehen und strahlt von dort auf das ganze Leben aus. So hat Miriam Sturzenegger beispielsweise Gabriel Walsers Alpsteinbeschreibung aus der „Neuen Appenzeller Chronick“, herausgegeben 1740, für das Buch transkribiert. Walser versucht, den Alpstein so genau wie möglich zu beschreiben. Er versucht ihn zu fassen, seine Eigenheiten, seine Wiesen, Seen, Höhlen und Löcher. Er eignet sich die Landschaft sprachlich an, um seine eigene Begeisterung für sie auf andere zu übertragen. Die Landschaft ist ihm Identifikationsort und ist doch nur durch die Sprache zu vermitteln. Im Wunsch, wahr zu sein, alles zu erfassen, verstrickt sich Walser in Wiederholungen, das Typische wird austauschbar. Doch der Wunsch nach Halt besteht weiter. Lassen sich aus dem Vergangenen Regeln für die Gegenwart oder gar die Zukunft ableiten? Wie lässt sich die Welt verstehen? Miriam Sturzenegger zeigt auf subtile Weise, wie sich nicht nur die Bewertung einer Landschaft, sondern auch der Weltereignisse verändert. Sie hat in ihrem Buch die Chronik des Appenzeller Kalenders aus dem Jahr 1836 aufgelistet. Dort ist angegeben, wie viele Jahre seit dem jeweiligen Ereignis bis zum Herausgabejahr des Kalenders vergangen sind. Die Liste beginnt mit dem Jahr der Erschaffung der Welt, gefolgt von jenem der Sintflut. Die Künstlerin hat sämtliche Angaben für das aktuelle Jahr umgerechnet und um Ereignisse nach dem Jahr 1836 ergänzt. Damit stellt sie die historische Übersicht nicht bloss, sondern richtet mit ihrer subjektiven Auswahl die Aufmerksamkeit auf den Wunsch der Menschen, die Welt zu erkennen und zu deuten. Einen anderen Weg, die Weltgeschichte zu fassen, wählte der Urururgrossvater der Künstlerin. In seinem Heimatort Trogen setzte er drei Riesenmammutbäume: den ersten nach der Schlacht von Königgrätz 1866, den zweiten nach der Schlacht von Sedan und den dritten nach dem Friedensschluss von Versailles 1871. Die Bäume stehen in einem besonderen Verhältnis zur Zeit, da sie einerseits Ausdruck einer vergangenen Gartenkultur sind und andererseits lebende Zeugen historischer Ereignisse: Trotz des Anlasses ihrer Pflanzung und ihres Alters sind sie immer auch Teil der Gegenwart. Miriam Sturzenegger verwendet in ihrem Künstlerbuch eine Fotografie der Bäume, zeigt aber immer nur Fragmente. So gleicht der Blick einem Suchen. Die Ausschnitte repräsentieren Ausblicke, doch nie auf das Ganze. Damit gleichen sie allen Versuchen, die Geschichte oder Gestalt der Welt zu fassen: Sie bergen Raum für die Zweifelnden.

Text für die Kulturlandsgemeinde 2016 in Stein