Augenreisen

by Kristin Schmidt

Landschaft als Realität – aber auch als Phantasie und Projektion: Dies zeichnet die Malerei der Niederländer aus. Das Kunstmuseum St. Gallen lädt zur Zeitreise ein, mit Blättern aus der eigenen Sammlung und aus einer hochkarätigen Schweizer Privatsammlung.

Jeder Blick ist eine Reise, jeder Schritt eine Wanderung. Die niederländischen Landschaften des 16. und 17. Jahrhunderts eröffnen dem Betrachter ein unermessliches Spektrum an Ausblicken, Ansichten und Schauplätzen, jenseits der Klischees von Windmühlen, Alleen und Grachten. Die gibt es freilich auch, ebenso die Marinedarstellungen und die typischen Stadtansichten mit Giebelhäusern. Doch die Ausstellung «Phantasien – Topografien» im St. Galler Kunstmuseum zeigt, dass dies nur ein Teilaspekt der holländischen Landschaft ist.

Bereits der Titel verweist auf das Spannungsfeld von Erdachtem und Gesehenem. Hinzu kommt Überliefertes durch Grafik-Editionen, Künstlerberichte und Sammlungen. Die Holländer hatten schon früh regen Kontakt nach Italien. Künstler und Sammler jenseits der Alpen zeigten ausserordentliches Interesse an den naturnahen, sorgfältig beobachteten Darstellungen holländischer Renaissancemeister.

Im 16. und 17. Jahrhundert kehrt sich dies um, und Italien wird zum Sehnsuchtsziel der Nordländer. So überrascht es nicht, zahlreiche italienische Motive zu finden. Nicht zu vergessen die Gebirge. So wird von Pieter Breughel d. Ä. berichtet, er habe, auf der Rückreise von Italien die Berge und Felsen der Alpen verschluckt und sie auf Leinwände und Malbretter wieder ausgespien. Er wird zum grossen Erneuerer der niederländischen Landschaftsdarstellung mit seinem Fokus auf die Lebenswirklichkeit. In der Ausstellung kündet davon etwa Breughels Blatt einer Landschaft mit rastenden Soldaten.

Andere grosse Namen fehlen ebenfalls nicht; so ist Rembrandt mit einer Serie von Ansichten des Amsterdamer Umlandes vertreten, Hans Bol mit seinen Dorflandschaften, von Jan van de Velde ist ein Monatszyklus zu sehen, von seinem Bruder Essaias ländliche Motive. Letzterer ist in der Sammlung mit zwei wichtigen Frühwerken vertreten, die hier in völlig neuem Licht erscheinen, da deutlich wird, wie die in der Grafik erprobten Kompositionen in die Malerei übertragen werden.

Gemälde aus der Sammlung des Kunstmuseums stellen nur einen kleinen Teil der Präsentation dar. Den Hauptanteil machen Arbeiten auf Papier aus einer Schweizer Privatsammlung aus, die sich durchaus messen kann mit dem, was in den Grafikkabinetten grosser europäischer Museen aufbewahrt wird.

Dies gilt zum einen für die Künstler: So zählt die Sammlung hervorragende Blätter aus dem äusserst schmalen gezeichneten und druckgrafischen Werk von Jacob van Ruisdael zum Bestand. Zum anderen ist die Qualität bemerkenswert. Es handelt sich ausnahmslos um frühe Abzüge, erkennbar am satten Schwarz und den feinen Lineaturen.

Die Zeichnungen wiederum sind weit mehr als Handskizzen, es handelt sich oft um bildhaft ausgeführte Werke, die für den damaligen Sammler bestimmt waren. So bei Jan van Goyen und Pieter Molyn, zwei Repräsentanten der sogenannten tonalen Phase. Letztere beruht auf der Erkenntnis, dass Licht und Atmosphäre die Eigenfarbe der Dinge zurückdrängen zugunsten einer homogenen Erscheinungsfarbe.

Die ungefähr 250 Werke laden zu Augenreisen ein, die Kenner wie Flaneure in ihren Bann ziehen. Letztere werden ihr Schritttempo mässigen, um in eins ums andere Blatt eintauchen zu können. Es lohnt sich drum, Zeit mit in die von Matthias Wolgemuth kuratierte Ausstellung zu bringen.