Mittags in einer Quartierbeiz

by Kristin Schmidt

Dienstag, im Februar 2016: „Walter setze ich auf Drei, damit ich weiss, wo die Stammgäste sitzen.“ Es ist 11:45 Uhr. Noch ist es ruhig im „Adler“ in Herisau. In der Gaststube sitzen erst drei Gäste, einzeln an drei Tischen. Die junge Bedienung nutzt die Zeit, ihre weniger erfahrene Kollegin einzuweisen, worauf es ankommt: die Plätze der Stammgäste zu kennen, ein gutes Lokalisierungssystem für die Bestellungen im Kopf zu haben und Geschick bei der Platzierung der Mittagsgäste. „Wenn dort schon drei sitzen, dann nimm ihn aufs Zwei, also bei Tisch Acht, dann 81 oder 82.“ Technolekt der Gastrobranche, nützliche Merkhilfe, wenn es hektischer wird. Es ist 11:55 Uhr. Stammgast Walter trifft ein, gesellt sich zu einem der einzeln Sitzenden, man begrüsst einander mit dem Vornamen. Walter hängt die SOB-Jacke über die Stuhllehne. Bruno kommt herein und fragt, ob er mit der Postcard zahlen darf: „Nein Bruno, da musst Du abwaschen.“ Persönlich geht es zu und unkompliziert, deutlich und herzlich. Im Hintergrund singen die Pet Shop Boys einen alten Hit. Die Musik liegt wohl in der Mitte zwischen dem, was die jungen Servicefachkräfte für gewöhnlich hören, und dem Musikgeschmack der älteren Gäste. Dann um 12:00 Uhr sinkt der Altersdurchschnitt rapide. Vier Zimmermannsleute treten ein. Danach drei Elektrotechniker. Manch einer hat den Doppelmeter im Hosensack, alle tragen das Firmenlogo auf den Jacken. Die Holzbauer, die Informatiker, die Haustechniker. Letztere betreten die Gaststube 12:10 Uhr, fünf Minuten später kommt die Mannschaft der Kanalreinigungs-AG in Warnwesten. Die Zweier-, Dreier- und Vierergruppen suchen sich einen Platz, sie bleiben unter sich.

Die Gaststube ist gut gefüllt, und noch immer ist der Service gleich schnell wie beim ersten Gast: Kaum sitzt einer, hat er bestellt und im nächsten Augenblick steht das Schälchen Blattsalat auf dem Tisch. Bestellen, trinken, essen, zahlen – zwanzig Minuten, mehr braucht es dafür nicht im Adler. Ein paar Worte unter Bekannten passen auch noch dazwischen, manchmal über die Tische hinweg. Der erste Gast geht, es ist Walter. Um 12:25 Uhr werden die unbenutzten Gedecke abgetragen. Hier gehen die Uhren rascher als anderswo, ausser für den Pensionär. Er sass als erster in der Gaststube und lässt sich nun sein übriggebliebenes Rindsvoressen in eine Styrofoambox einpacken.

Das ist noch kein Zeichen des Aufbruchs. Stattdessen inspiziert der Alte den geflochtenen Tischkorb mit den süssen Sachen und die Bedienung weiss, was jetzt passiert: „Typisch Stammgast, alle Snacks anlangen.“ Macht nichts, sie sind ja einzeln verpackt, aber „wer sein Zmittag nicht fertig isst, bekommt kein Dessert.“ Bekommt er doch, denn der scherzhaft drohende Ton ist Zeichen des Vertrautseins. Man kennt einander, und sicherlich schätzt der Pensionär bei seinem mittäglichen Gasthausbesuch gerade auch diese persönlichen Worte.

Viele der Gäste kommen wöchentlich in den Adler, andere täglich. Manch einer nutzt die kurze Mittagspause sogar noch für eine Zeitungsschau. Der“ Tagesanzeiger“ liegt aus, die „Appenzeller Zeitung“, der „Blick“. Im Hintergrund trällert Kylie Minogue. „Isch‘s guet gsi?“, erkundigt sich die junge Schwarzhaarige und erhält Zustimmung. Der Fackelspiess, das Rindsvoressen, beides sehr fein. Montags bis freitags hat der Adler geöffnet und jeden Mittag gibt es drei Menüs. Zwei mit Fleisch, eines ohne. Das Vegimenü wird heute von niemandem geordert. Dabei klingt Gemüselasagne durchaus verheissungsvoll.

Eine Frau betritt die Gaststube, der erste weibliche Gast? Wie selbstverständlich begibt sie sich hinter den Tresen – die Bedienung erhält Verstärkung. Und es werden doch noch einmal neue Gedecke benötigt. 12:45 Uhr kommen drei Männer in Tarnkleidung aus der nahen Kaserne in den niedrigen Schankraum. Einen freien Tisch gibt es nicht mehr und noch nicht, sie setzen sich anderswo dazu. Es dauert nicht mehr lange, dann leert sich das Lokal, 12:55 Uhr begeben sich alle Handwerker wieder an die Arbeit. Der Pensionär hat seinen Kaffee erhalten, so langsam wird es ruhiger.

Obacht No. 24 | 2016/1