Bibliothek Hauptpost – mehr als bibliothekarische Grundversorgung

by Kristin Schmidt

Woran ist eine Bibliothek zu erkennen? In ihrem Inneren sind die aufgereihten Bücher das charakteristischste Merkmal. Aber von aussen? Die einhundertjährige Hauptpost St.Gallen, früher genutzt als Telegrafen-, Telefon- und Briefsortierzentrale, ist neu Standort der Bibliothek Hauptpost. Im wuchtigen Bau, umhüllt von einem historisierenden Gewand aus flach bossierten Sandsteinquadern, wurden von Stadt und Kanton St.Gallen über 1´800 Quadratmeter in ein Provisorium für Bücher, Lesende, Forschende, Bibliothekarinnen und Bibliothekare umgebaut. Angelegt ist es auf zehn Jahre, dann soll die gemeinsame Publikumsbibliothek entstehen.

Hoch oben über den Köpfen der Passantinnen und Passanten schweben fünf goldene Bücher. Aufgehängt an ausgedienten Fahrleitungen in der Gutenbergstrasse sind sie das erste Zeichen für die Bibliothek. Das zweite befindet sich auf Augenhöhe seitlich des östlichen Gebäudeeingangs. Weiss auf dunkler Bronze locken hier kurze literarische Sequenzen, gastronomische oder programmatische Hinweise, denn die Bibliothek bietet auch Raum für Lesungen oder Ausstellungen, Raum zum Verweilen, für Begegnungen und Gespräche. Als ein Knotenpunkt der Gesellschaft ist die neue Publikumsbibliothek in der Hauptpost mitten in der Stadt am richtigen Platz. Der städtebaulich-architektonisch wohlproportionierte Bau wurde von 1911 bis 1914 für die Schweizerische Post errichtet und ist im Inventar der schützenswerten Bauten aufgeführt. Dies war der eine Grund dafür, die baulichen Massnahmen gering zu halten. Der andere: Der Kanton als Eigentümer wird das Gebäude in zehn Jahren grundlegend sanieren. Deshalb werden bestehende Strukturen und Installationen vorerst weitergenutzt – einen eigenen Charakter entfaltet das Provisorium trotzdem.

Das Atelier Barão-Hutter arbeitet mit der starken Atmosphäre des Gebäudes. Es führt den vorhandenen Kontrast zwischen hochwertig gestalteten und sachlich nüchternen Elementen weiter. So wurden die Linien aus goldfarbenen Mosaiksteinchen im Tympanon des Portals spielerisch ergänzt durch eine Kordel. Sie verbindet die schwebenden Bücher, führt unter dem Bogenfeld hinein ins Treppenhaus Gutenbergstrasse und bis in den ersten Stock. Nach zahlreichen Schlaufen verschwindet sie in einer Eichenholzbuchse auf dunkelblauer Wand. Diese Farbe verleiht dem Eingangsbereich Tiefe und sorgt für ein erstes Innehalten. Der Blick öffnet sich für weitere präzise entworfene Details. So taucht das Eichenholz im gedrechselten Türstopper wieder auf und es rahmt die kreisrunden Fenster in den blau gestrichenen Türen. Die Form der Türfenster ist ebenfalls dem Bestand entlehnt: Barão-Hutter zitieren die Bullaugenfenster der historischen Aufzugstüren und sorgen damit für Transparenz – auch bei den Büroräumen. Sie befinden sich im Westen wie auch der Schulungsraum. Im Norden gibt es zwei Gruppenarbeitsräume. Im Süden ist die Kantonale Denkmalpflege angesiedelt. Im öffentlich zugänglichen Bereich im Osten finden nun 100‘000 Medien Platz, darunter 30‘000 sogenannte Nonbooks: DVDs, CDs, Hörbücher, Mikrofilme, Karten. Damit bietet die Kantonsbibliothek Vadiana endlich eine Freihandaufstellung der jüngeren Medien, und die Stadtbibliothek versammelt hier ihre Medien für Erwachsene. An den alten Standorten verbleiben die städtische Kinder- und Jugendbibliothek und die nicht für Freihandaufstellung geeigneten Bestände der Vadiana.

Beim Bibliotheksrundgang fallen weitere eigens entworfene Elemente auf: die Zeitungshalter aus einfachen Stahlprofilen, die Theken, Bücherwagen, Lüster oder der Lesetisch im Turmzimmer. Letzteres ist das Studierzimmer der Bibliothek mit der Sammlung der Sangallensia. Hier dämpft ein roter Teppich die Schrittgeräusche. Leselampen und ein Vorhang ermöglichen konzentriertes Lernen und Arbeiten.

Diagonal gegenüber, am weitesten entfernt vom stillen Turmzimmer befindet sich das Café. Auch dieses entfaltet eine besonders einladende Atmosphäre. Ein Teil davon geht auf die ursprüngliche Funktion und Gestaltung zurück: Hier, im einzigen Raum mit Stuck über dem Betongerippe, befand sich das Direktorenzimmer. Die neuen Akustikplatten lassen dem üppigen Deckenschmuck seinen Auftritt und die textile Stellwand führt ihn fort. Sie hat ebenfalls eine akustische Funktion und bildet zugleich die Kulisse für Lesungen und Literaturgespräche. In ihrer von Jakob Schläpfer und Barão-Hutter entworfenen Landschaft erzählen exotische, vegetabile, historische und zeitgenössische Motive von St.Gallen als Buchstadt und Äthiopien als der Heimat des Kaffees. Gegenüber laden rostrote Sitzmöbel zum Verweilen ein. Hier besteht weder Konsum- noch Lesezwang, doch der Appetit auf beides ist längst geweckt.

Ein Regal mit einhundert Zeitschriftentiteln scheidet Café und Bibliothek voneinander, dennoch herrscht Offenheit zwischen den einzelnen Bereichen. Auch der Boden vermittelt einen einheitlichen Raumeindruck. Abgesehen vom Entrée war die gesamte Geschossfläche für eine Briefsortieranlage aus statischen Gründen verstärkt worden. Dieser Betonboden wurde abgeschliffen, instandgesetzt und versiegelt. Das helle Grau wirkt nüchtern und erhaben zugleich. Es bildet die ideale Bühne für die Bücher und das Lesen.

Kantons- und Stadtbibliothek St.Gallen, Planung und Realisierung, Baudokumentation Hochbauamt, 2015 | N° 186