Tine Edel – Einmal war es so

by Kristin Schmidt

Und im Verputz a de Wand gsehsch Gsichter und Forme

Tier frässed Lüt frässed Tier und immer wieder vo vorne

D Auge wachsed ne zue und d Bei wachsed ne zäme.

Du vergässisch ihri Gsichter, du vergässisch ihri Näme

Manuel Stahlberger, «Du verwachsch wieder nume i dinere Wonig»

Kurz vor dem Erwachen, kurz vor dem Einschlafen, wenn das Licht schon gelöscht oder noch nicht eingeschaltet ist, wenn das Zimmer nur ganz spärlich erleuchtet ist vom hereindringenden Schein der Strassenlaterne, wenn der Schlaf noch nicht gekommen ist oder die Schlafenden eben erst erwachen, verwandeln sich die vertrauten Dinge des Zimmers. Das Muster der Tapete beginnt ein Eigenleben, der Vorhang verbirgt grimmig blickende Fabelwesen. Das Zwielicht der Dämmerung nimmt der Welt ihre Eindeutigkeit – drinnen in der Wohnung genauso wie draussen vor der Tür. Wenn die Blaue Stunde vorüber ist, dann wird es dort, wo das Licht der Stadt schwächer wird, an ihren Rändern, in den Zwischenzonen, in den Parks, geheimnisvoll, es wird stiller, fremder. Das liegt nicht nur daran, dass alles weniger deutlich zu sehen ist. Die Welt klingt auch anders, fühlt sich anders an. Ein kurzes Wegstück kann sich endlos dehnen. Ein baumumstandener Flecken im Park wird zu einem ganzen Wald – Distanzen und Dimensionen scheinen nicht mehr dieselben wie am Tage zu sein.

Sichtbares lässt sich fotografieren; doch lässt sich die besondere nächtliche Stimmung im Bild bannen? Lässt sich all das darstellen, was mehr zu erahnen, als zu sehen ist? Lässt sich die Ahnung selbst fassen? Tine Edel faszinieren die Zwischenbereiche, das Beiläufige, das noch nicht oder nicht mehr ganz Erkennbare, das Unbeachtete. Mit einer analogen Kamera durchstreift die Künstlerin die städtische Umgebung, nachts, aber auch am Tage. Nicht auf der Suche nach einem Motiv, sondern offen für das, was ihr begegnet, für die Stimmung, das Licht, die Nebensächlichkeiten, zugänglich für die Aussenwelt.

Bereits in den 1950er Jahren hatten die Lettristen in Paris das Umherschweifen als Methode entdeckt, um sich dem urbanen Raum neu zu nähern. Sie verachteten vorgegebene oder ausgetretene Pfade, verzichteten auf alle herkömmliche Bewegungs- und Handlungsmotive. Sie liessen sich treiben, ohne festen Kurs, nur den momentanen Erlebnissen, den Strassenzügen folgend und erkundeten so die psychogeografischen Zusammenhänge der Stadt. Es ging darum «die genauen Gesetze und exakten Wirkungen des geographischen Milieus zu erforschen, das bewusst eingerichtet oder nicht, direkt auf das emotionale Verhalten des Individuums einwirkt.» (Guy Debord)

Ziel der Lettristen und der auf sie folgenden Situationisten war es nicht, zu flanieren, zu spazieren oder zu reisen, sondern einzutauchen in das, was vorgegeben ist, die Strömungen und Strudel wahrzunehmen. Auch Tine Edel gibt sich diesen Anregungen des Geländes hin, zudem hält sie sie fotografisch fest. Schon beim Umherschweifen der Künstlerin wirkt die Umgebung auf ihre Weise mit, lenkt durch ihre Wege die Schritte, aber auch die Motive lassen sich nicht vollständig aneignen und bleiben in der fotografischen Umsetzung eigenständig. Das gilt sowohl für die Entwicklung des Bildes, als auch für seine Präsentationsform.

Tine Edel entwickelt ihre Aufnahmen selbst. Fasziniert beobachtet sie, wie jedes Bild sein Eigenleben behält, wie sich der Prozess des Entwickelns ins Motiv einschreibt. Die Künstlerin verwendet das Verfahren der Cyanotypie. Bei dieser alten Technik ist das Entwickeln des Motives dem eigentlichen Akt des Fotografierens nahezu ebenbürtig. Das handwerkliche Ausdrucken erlaubt eine Interpretation des Negativs, die Künstlerin kann Zufälle zulassen oder unterbinden. Besonders auf den auf Glasscheiben entwickelten Motiven sind Krakeluren, kleine Bläschen oder Schlieren gut zu sehen. Unvorhergesehenes verewigt sich: Lichtflecke, Fasern, Fehlbelichtungen werden Teil der Szenerie. Darüber hinaus gibt es in der Arbeit der Künstlerin nicht die einzig wahre Form für die Präsentation eines jeden Bildes. So sind innerhalb der Ausstellung Motive an mehreren Stellen in unterschiedlichen Formaten zu entdecken. Die Hängung selbst zeigt, dass Tine Edel ihre Bilder als Teil einer grösseren Erzählung versteht. Wenn sie etwa für «Zwischen den Jahren» eine Diaprojektion als Endlosschleife wählt, fügt sich eine Fotografie zur anderen, jede hat eine Nachfolgerin, eine Vorgängerin, keines steht isoliert, gemeinsam ergeben sie einen Bilderstrom, der dem «stream of consciousness» einer literarischen Figur gleicht. Wahrnehmungen mischen sich mit Assoziationen, Empfindungen haben ebenso Platz wie Beobachtungen. Dieses Beobachten hört mit dem Fotografieren des Sujets nicht auf, sondern setzt sich innerhalb der Ausstellung fort. Die Hängung der Glasscheiben erlaubt beispielsweise unzählige weitere Beobachtungen und Entdeckungen: Wie sich etwa ein Fenster in einem Fenster spiegelt, wie der Schatten des Fenstermotives hinter der durchleuchteten Glasscheibe auf die Wand fällt. Wie eine Spiegelung in einer Seifenblase mit dem Durchlicht korrespondiert. Wie transparente und intransparente Elemente eines Bildes sowohl miteinander in einen Dialog treten, aber auch mit dem Bildträger, der Wand, dem Licht. Tine Edel zeigt unspektakuläre Motive, aber durch ihre Arbeit offenbart sie kleine visuelle Sensationen.

Vernissagerede, Ausstellung Tine Edel, Galerie vor der Klostermauer, 7. Februar bis 1. März