Wie viele Bücher besitzen Sie?

by Kristin Schmidt

Das St. Galler Künstlerduo Com & Com und der Regisseur Milo Rau fragen nach, was die Schweiz ist und was sie werden soll. Unter www.pointdesuisse.ch haben sie die berühmt gewordene Gulliver-Umfrage der Expo 1964 ins Heute geholt.

Wozu ist die Kunst gut? Zur Verschönerung der Welt? Taugt sie als sozialer Kitt? Oder sollte sie der Erkenntnis und Reflexion dienen? Sind Com & Com und Milo Rau im Spiel, ist mehr zu erwarten als vordergründige Ästhetik oder Unterhaltung. Sowohl der Theatermacher als auch die Künstler Marcus Gossolt und Johannes M. Hediger gehen in ihren Arbeiten gesellschaftlichen Prozessen und Geschehnissen nach. Das kann unterhaltsam sein, gibt aber auch Denkanstoss – zum Beispiel beim ersten Gemeinschaftsprojekt der drei: Für das 43. Festival de la Cité Lausanne haben sie die Gulliver-Aktion der Expo 1964 mit neuen Inhalten aktiviert.

Heftig diskutierter Fragebogen

Damals wurden den Besucherinnen und Besuchern pointierte, Schweiz-spezifische Fragen gestellt. Diese Umfrage barg im Vorfeld ungeahntes Konfliktpotenzial und wurde mehrfach zensiert. Fragen zu Schwangerschaftsabbruch, Bodenspekulation, Militärdienstverweigerung oder der 40-Stunden-Woche mussten auf Anweisung des Bundesrates gestrichen werden. Die 14. Version des Fragebogens wurde endlich akzeptiert mit der Auflage, die Umfrageergebnisse zu vernichten. Zufällig blieb ein Teil davon dennoch auf Mikrofilm erhalten.

Genau 50 Jahre später ist die Aufmerksamkeit für jene Umfrage gross. Der Jahrestag der Expo 1964 ist ein Grund dafür. Ein anderer liegt wohl darin, dass immer mehr auch der Blick auf die Expo 2027 gerichtet ist und auf den Nutzen von Landesausstellungen für die nationale Identität. Doch auch Expo-unabhängig lohnt es sich, die damaligen Ergebnisse zu studieren und in den zeitgenössischen Kontext zu stellen: Fallen die Antworten heute anders aus? Gibt es Fragen, die überholt sind? Wie provokant werden die damals brisanten Fragen heute empfunden? Was sind die Brennpunkte heute?

Noch bis Ende Juli mitmachen

Com & Com und Milo Rau verteilen in ihrem Projekt «Point de Suisse» nicht einfach nur die Fragebögen von vor 50 Jahren. Sie haben eine repräsentative Umfrage initiiert, deren Ergebnisse seit Anfang Juli vorliegen. Am 1. Juli startete zudem eine öffentliche Onlineumfrage. Sie läuft noch bis Ende Juli, aber die Ergebnisse werden laufend aktualisiert. Und schliesslich gibt es eine Plakat- und Postkartenaktion. Von aktuellen Medien bis hin zu einem neuen Skulpturbegriff wird also ein breites Spektrum genutzt.

Aber auch die Fragen sind teilweise andere. Sie wurden gemeinsam mit Soziologen entwickelt. Manche Fragen sind so gestellt, dass sie neue Schlüsse zulassen, so etwa, wenn für einmal der Migrationshintergrund anhand der Anzahl der nichtschweizerischen Grosseltern abgefragt wird. Es erstaunte selbst die Initianten von Point de Suisse, dass nur bei knapp 50% der Befragten alle vier Grosseltern aus der Schweiz stammen.

Was ein «guter Schweizer» ist

Viel zitiert worden sind bereits die Antworten zur Frage, was einen guten Schweizer auszeichnet – die weibliche Form wurde vor 50 Jahren noch getrost weggelassen. Und es verwundert kaum, dass die Toleranz gegenüber Langschläfern heute grösser ist als vor einem halben Jahrhundert.

Interessanter ist, dass die Teilnehmenden der repräsentativen Umfrage lieber das Swissair-Grounding aus der Schweizer Geschichte streichen würden als alles andere, im Internet aber mit grossem Abstand die Flüchtlingspolitik im zweiten Weltkrieg und die Einwanderungs-Initiative 2014 genannt werden. Auch die Zahl der Bücher daheim variiert sehr zwischen Internet und repräsentativer Umfrage.

Die Frage nach den Büchern ist eine der neu hinzugekommenen. Im Kunstkontext sind eben andere Fragen möglich, und es spricht für die Künstler, dass sie auch nach der Kunst selbst fragen. Das Projekt widerlegt auch jene 7,9 Prozent, denen Kunst zu gar nichts gut zu sein scheint. Kunst ermöglicht Teilnahme und hat im Falle von Point de Suisse einige Erkenntnisse zu bieten – nicht für die Soziologen, sondern für jede und jeden.