Sven Bösigers Soundbohrungen: «Wo»

by Kristin Schmidt

«Etwas passiert immer» John Cage

Landkarten sind Landschaften. Unwillkürlich fordern sie auf, mit den Augen spazieren zu gehen, mit dem Finger den Linien zu folgen, die Höhenlinien zu überwinden, in grün gekennzeichneten, zusammenhängenden Waldflächen gedanklich zu flanieren. Auch in Zeiten von Navigationsgeräten und GPS ist die Faszination der Landkarten ungebrochen. Eine Karte zu öffnen, ist bereits ein besonderer Akt. Aus dem klein zusammengelegten Blatt Papier entfaltet sich Stück für Stück eine ganze Gegend.

Das Zusammenfalten freilich ist oft weniger einfach. Ist es schliesslich gelungen, liegen viele Ebenen Papier übereinander: Die ursprünglich horizontal aus- gebreiteten Informationen sind übereinandergeschichtet, sie sind verdichtete Landschaft – so wie die Soundbohrungen Sven Bösigers.

Sven Bösiger verdichtet den Klang der Landschaft und der Städte. Der Künstler hat an 59 Stellen der Schweiz gebohrt, das heisst, er hat dort anderthalb- bis vierstündige Tonaufnahmen gemacht. Diese unterteilte der Künstler in zwanzigminütige Abschnitte und legte sie anschliessend übereinander. Jede Audiosequenz besteht nun also aus mehreren Tonschichten derselben geografischen Quelle. Sie sind verdichtetes, konzentriertes Tonerlebnis. Der Charakter der ursprünglichen Klänge, Töne, all dessen, was zu hören ist, bleibt nicht nur erhalten, er wird sogar verstärkt.

Wasser rauscht, die Tram rattert, Störche klappern, in Birsfelden sind die tiefen Frequenzen eines vorbeifahrenden Schleppers zu hören, durchs Avers ziehen tausend Schafe, manch eines blökt. Mal ist es laut, mal ist es leise – die Ge- räusche sind urban oder fern der Menschen aufgezeichnet.

Gemeinsam ist allen Orten, dass es Stellen des Überganges sind. Sven Bösiger arbeitet mit dem Fokus auf Passagen: «Übergänge als Warteräume in erweitertem Sinne, Atmosphärenkreuzungen, Landenge, Pässe, Furten, Zwischenstationen». Es sind reale Grenzorte darunter, aber auch solche zwischen Wasser und Land. Oder die Vogelnetze am Col de Bretolet: eine Zwischenstation für Vögel, die dort beringt werden. Auf der Karte sind diese konkreten Gegebenheiten jedoch nicht zu sehen. Obgleich sie die Welt in grossem Massstab darstellen. Sven Bösiger hat zu allen Orten die 1:25000er Karten des Bundesamtes für Landestopografie verwendet, laut Swisstopo «die genauste und informativste topographische Karte der Schweiz für Wanderer, Alpinisten, Planer, Individualisten und Entdecker». Der Künstler hat sie sogar noch einmal deutlich vergrössert. Allerdings verwendet er Ausschnitte. Auf den quadratischen Feldern markiert er jene Punkte, an denen er seine Soundbohrungen vorgenommen hat. Und er kombiniert die Karten per Zufallsprinzip. Da er sie zugleich auf Schwarzweiss- und Grautöne reduziert, können zwar wichtige Informationen nicht mehr oder nur bei aufmerksamerer Betrachtung erschlossen werden, aber es zeigen sich ganz neue Zusammenhänge. Die Linie einer Strasse folgt derjenigen eines Flusses. Ein geschlossenes Waldgebiet geht über in einen See. Auch Grenzlinien ziehen sich über Kartenausschnitte und somit über nicht zueinander gehörige Gebiete.

Die Soundbohrungen und die frei kombinierten Kartenausschnitte setzen Kopfreisen in Gang. Aber die Arbeit Sven Bösigers hat noch eine dritte Komponente, die es ebenfalls vermag, vielfältige Assoziationen auszulösen. Der Künstler hat zu jedem Tonkonzentrat einige Sätze notiert. Diese kurzen Texte sind viel mehr als blosse Beschreibungen dessen, was zu hören oder zu sehen war. Die erlebte Szenerie wird sprachlich verdichtet und eröffnet weite atmosphärische Räume. Mit gut gesetzten knappen Hinweisen fasst der Künstler sein individuelles Erlebnis, seine Beobachtungen und Empfindungen präzise und stimmungsvoll zusammen und lässt sie uns nacherleben.

Die vierte Ebene der Arbeit «Wo» sind Schwarzweissaufnahmen, die nicht wie die Aufnahmen und die dazugehörigen Kartenstücke nach dem Zufallsprinzip zueinander gefügt sind, sondern zu ästhetisch motivierten Kombinationen geordnet sind. Die Fotografien entstanden jeweils vor Ort zeitgleich zu den Aufnahmen. Sie illustrieren das Geschehen nicht, sondern funktionieren als eigenständige Bilder. Wie in den Aufnahmen laut und leise, kontrastieren hier Fülle und Leere miteinander. Horizontale Strukturen wie Brücken, Geländer oder ein Haag führen über Motive hinweg zu einer übergeordneten waagerechten Bildausrichtung, oder die Strukturen von Erde und Schnee korrespondieren miteinander wie anderswo die Dichte städtischer Infrastruktur mit derjenigen von Natur.

Sven Bösiger hat die Fotografien am Rechner bearbeitet und ihr Wesen herausgeschält. Entstanden sind Landschaften aus Körnung, Licht und Kon- trasten. Fast wie jene, die der Boden der Kunsthalle Arbon bildet: Landschaften aus Kratern, Kanten und den Spuren der Zeit. Im Kontext der Arbeit Sven Bösigers lassen sie sich mit einem Male lesen. Jede und Jeder wird sie aufgrund des eigenen, individuell verschiedenen Erfahrungshorizontes anders lesen, denn die sind reich an Material für viele weitergehende Gedankenreisen.

Einführungstext, Ausstellung Kunsthalle Arbon